Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln
es mit ihnen, und was bedeutet es?«
Aisha betrachtete Mirijam eine Weile nachdenklich. » Du weißt es wirklich nicht, stimmt’s?« Dann seufzte sie tief, bevor sie erklärte: » In der Heimat meiner Ahnen wird dieses Ereignis beim ersten Mal mit einer geheimen Zeremonie gefeiert, mit der die Mädchen auf ihre neue Rolle vorbereitet werden, denn es bedeutet, dass ihre Kinderzeit endgültig vorüber ist. Die alten Götter sagen, mit der ersten Blutung findet eine Wandlung statt, und daher gehören die jungen Mädchen von diesem Zeitpunkt an zu den erwachsenen Frauen, mit allen Rechten und Pflichten. Auch hier denkt man ähnlich, obwohl man es anders nennt, und so heißt das für dich, aus dir, dem Mädchen Azîza, ist eine Frau geworden. Im Wesentlichen bedeutet es, dass sich dein Körper darauf vorbereitet, ein Kind in sich aufzunehmen und es zu hüten bis zur Geburt.«
Aisha überlegte, dann fuhr sie mit leiser Stimme fort: » Es bedeutet aber auch Liebe und Leid. Unsere Ahnen sagen, Liebe und Leid sind im Herzen miteinander verwachsene Zwillinge. Sie stellen eine große Macht dar, gegen die es keinen wirksamen Zauber gibt. Man kann sie nicht trennen, und wer ihnen begegnet, wird sie nicht abweisen können, selbst wenn das eigene Herz daran zugrunde geht. Ja, so ist es.«
Angesichts von Mirijams weit aufgerissenen Augen legte Aisha beruhigend die Hand auf ihren Arm, bevor sie hinzufügte: » Es bedeutet weiterhin, dass du von nun an zum Kreis der eingeweihten Frauen gehörst und eines Tages das Wissen um Zeugung und Geburt erlangen wirst. Zunächst einmal aber bedeutet es für dich nicht mehr, als dass du hin und wieder Bauchweh haben wirst. In der letzten Zeit hast du dich wahrscheinlich schlecht und unruhig gefühlt, hast vielleicht sogar Krämpfe gehabt, nicht wahr? Ja, so ergeht es den meisten. Dagegen helfen Sitzbäder mit krampflösenden Kräutern sowie beruhigende Tees, aber auch Wärme und Ruhe. Die Götter in ihrem unendlichen Wissen haben es für uns Frauen nun einmal so eingerichtet, und wir müssen uns dem fügen. Komm zu mir, wenn du dreimal geblutet hast. Dann werde ich dir mehr erzählen.«
Als Aisha ihre Ziege losband, den Korb aufnahm und sich Richtung Mogador aufmachte, erhob sich auch Mirijam. Unsicher betrachtete sie die kleinen Schwämme in ihren Händen. War nun alles gut? Es gab also keinen Fluch und keine tödliche Krankheit? Wie gern würde sie Aisha glauben.
Tief sog sie die Luft ein, und es kam ihr vor, als nähme sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder den salzigen Duft des Meeres wahr und spüre die Wärme der Sonne und den weichen Sand unter ihren Füßen.
36
Alî el-Mansour lächelte vor sich hin. Vor kurzem erst hatte seine Tochter ihn gefragt: » Woran liegt es wohl, dass es uns beiden in Mogador so gut gefällt?« Für ihn war die Antwort klar, besonders an einem Abend wie diesem. » Wir beide sind Hafenkinder, du aus Antwerpen, ich aus Genua. Ein Hafen ist uns zutiefst vertraut, und zwar mit allem, was dazugehört.«
Das Turmzimmer in unmittelbarer Nähe des Hafens, zum Beispiel, war für sie beide wie gemacht. Er konnte Wetterbeobachtungen anstellen, den Lauf der Sterne studieren oder den Trubel im Hafen beobachten. Auch Azîza liebte diesen lichtdurchfluteten Raum mit der grandiosen Aussicht. Oft saß sie am Tisch, brachte ihre Bücher auf den neuesten Stand und ließ sich dabei immer wieder von dem Blick aus den Fenstern ablenken.
Wie stets umspielte der Wind auch heute Nacht den Küstenstreifen und die Stadt und wehte zum offenen Fenster in das Turmzimmer hinein. In Mogador war immer Wind. Den einen Tag kam er als sanfte Brise, am nächsten stürmte er wild durch die Gassen und wirbelte den Staub auf. Er konnte ebenso von der See kommen wie aus der Wüste, und je nachdem, wo er zuvor seine Kräfte gesammelt hatte, war die Luft entweder von Salz und Möwengeschrei erfüllt oder vom heißen Atem der Sahara. Dazu rauschte und flutete ununterbrochen, am Tag wie in der Nacht, die Brandung gegen die Felsen und den Strand, und das Meer trug feine Spitzenhäubchen aus weißem Schaum.
Ja, es gefiel ihnen hier. Sie hatten sich eingerichtet, er mit seinen Versuchen, aus murex eine gute Purpurfarbe herzustellen, und Azîza mit ihren Teppichen. Sie lebten angenehm und bequem, ohne Aufregungen. Und doch bohrte etwas in Azîza und störte ihren Seelenfrieden, das spürte er genau. Was beschäftigte sie und ließ sie nicht zur Ruhe kommen? Fragen zu stellen hatte keinen Sinn,
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