Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln
sowie einer geschnitzten Decke und gemauertem Kamin. Azîza saß unter der Öllampe über eine Abhandlung gebeugt, die sich mit Färbepflanzen beschäftigte. Jetzt sprang sie auf, um ihm seinen Umhang abzunehmen.
In den letzten beiden Jahren war sie schnell gewachsen, dabei aber zart geblieben. Ihre Bewegungen waren immer noch graziös wie die einer Gazelle und ihr Benehmen tadellos, wie ein Vater es sich nur wünschen konnte. Das Wichtigste aber, sie war nach wie vor sein Kind, sein geschenktes Kind, auch wenn aus ihr nun anscheinend eine Frau werden würde.
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Als sie die Augen aufschlug, spürte Mirijam, dass sich über Nacht etwas verändert hatte. Die Nervosität und innere Spannung der letzten Zeit waren verflogen, auf einmal fühlte sie sich ruhig. Sie lag auf dem Rücken, einen Arm hinter dem Kopf, die andere Hand auf ihrem Bauch, und beobachtete, wie das Licht der aufgehenden Sonne das Zimmer erhellte. Plötzlich fiel es ihr ein: In dieser Nacht hatte sie wieder einmal von der dunkelhaarigen Frau geträumt, jener Frau, von der sie annahm, es sei ihre Mutter Lea. An Einzelheiten des Traums konnte sie sich zwar nicht erinnern, an die ihr entgegengestreckten Arme, das liebevolle Lächeln und an das Strahlen, das von der Frau ausging, hingegen wohl.
Heute würde sie Mutters Päckchen öffnen, beschloss sie. Natürlich war sie keine Braut, und ebenso wenig steckte sie in einer Notlage, aber sie fühlte, dass die Zeit gekommen war, sich mit diesem besonderen Vermächtnis zu befassen. Hatte Aisha nicht gesagt, aus ihr werde nun eine Frau mit allen Rechten und Pflichten? Sicher hatte ihre Mutter etwas wie diese gewisse Reife gemeint, als sie verfügt hatte, sie solle die Briefe erst als Braut lesen.
Es wurde Nachmittag, bis Mirijam endlich Zeit dazu fand. Sie betrat das Turmzimmer. In den Regalen lagerten ihre Teppichentwürfe, die Geschäftsbücher sowie Abu Alîs astrologische Tabellen und Notizen. Hier in der Lade des Arbeitstisches, vor Staub geschützt, bewahrte sie ihren Schatz auf.
Schon häufig hatte sie das Bündel herausgenommen und von allen Seiten betrachtet, hatte es in der Hand gewogen und sogar daran geschnuppert, in der Hoffnung, einen letzten Hauch von Mutters Duft feststellen zu können. Manchmal hatte sie nur ehrfürchtig mit dem Finger darüber gestrichen, ein andermal hatte die Neugier sie gepackt, so dass sie kurz davor gewesen war, es zu öffnen. Schließlich hatte sie es aber noch jedes Mal wieder zurückgelegt. Heute allerdings, nach dem Traum der vergangenen Nacht, fühlte sie sich bereit.
Mit klopfendem Herzen hielt sie das Päckchen in der Hand. Die lederne Schutzhülle fühlte sich etwas spröde und rissig an, ebenso die Seidenkordel der Verschnürung. Ihr Vater fiel ihr ein, wie er sie auf seinem Sterbebett gesegnet hatte, und Lucia, die schöne Schwester, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Vorsichtig öffnete sie die Knoten und schlug das Ledertuch auseinander. Vor ihr lag eine versiegelte Schweinsblase. Mirijam nahm ein Messer zur Hand und schob es behutsam unter den roten Siegellack. Das Siegel ihres Vaters war darin eingeprägt, und sie zögerte, es zu brechen.
Dann gab sie sich einen Ruck, und der Lack zerbrach. Mirijams Hände zitterten, als sie die beschriebenen, mehrfach gefalteten Papiere aus der wasserdichten Hülle nahm und vor sich auf die Tischplatte legte. Als Erstes fielen ihr die saubere, steile Handschrift auf, die engen Zeilen sowie jegliches Fehlen von Ausstreichungen oder Tintenspritzern. Ihre Mutter war offensichtlich eine geübte Schreiberin gewesen.
Die Blätter waren nummeriert, und dem ersten Anschein nach schien es sich um vier einzelne Schriftstücke zu handeln. Ein feiner Duft entstieg dem Papier, kaum noch zu ahnen, aber Mirijam war, als könne sie sich an diesen Geruch erinnern. Ergriffen dachte sie daran, dass sie die Bögen, die ihre Mutter vor so langer Zeit in Händen gehalten hatte, nun selbst berührte.
12. Oktober 1506
Gesa sagt, begann das erste Schreiben , formlos und ohne irgendeine Anrede , noch bevor der Sommer kommt, werde ich ein Kindlein wiegen. Ich wünsche so sehr, sie wird recht behalten! Und ausgerechnet jetzt ist Andrees verreist! Da ich mein Glück und meine Freude also leider nicht mit meinem Gemahl teilen kann, bringe ich sie wenigstens zu Papier.
Seitdem ich aus dem unfreundlichen England hierherkam, hat sich mein Leben zum Glücklichen gewendet. Andrees ist ein wahrhaft guter Mann, und ich habe geschworen, ihm eine
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