Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln
Hatte er überhaupt bemerkt, dass sie bereits wieder festen Boden unter den Füßen hatten? Mirijam sank neben dem Alten zu Boden. Sie fühlte nichts als Müdigkeit und Schmerzen, Ohnmacht und Leere. Ihr Blick ging zu Cornelisz. Sie sehnte sich danach, erneut von ihm in den Arm genommen und getröstet zu werden.
Natürlich löste ihre Ankunft große Aufregung unter den Dorfbewohnern aus, da sie sich in der Eile nicht hatten ankündigen können, doch Cadidja erklärte allen den Hintergrund.
Für die Portugiesen waren kleine Ansiedlungen wie dieses Fischerdorf kaum von Interesse. Die hier lebenden Aît-Regrara, ein Volk, zu dem auch Cadidjas Familie gehörte, waren arme Leute, die für ihren Lebensunterhalt aufs Meer hinausfuhren, ihr Öl aus den Früchten wilder Arganienbäume herstellten und ein paar Ziegen hielten. Cornelisz und Cadidja, umringt von den Leuten des Dorfes, mussten zahlreiche Fragen beantworten, und immer wieder warfen die Bewohner neugierige Blicke zu Mirijam und ihrem Vater herüber.
Cornelisz lachte mit den Männern, deutete hierhin und dorthin, und bereits nach kurzer Zeit liefen die Frauen geschäftig durch das Dorf und trugen Decken, Teppiche und allerlei Hausgerät herbei. Bald darauf stand ihnen ein altes, verwaistes Häuschen zur Verfügung. Es war zwar klein und dunkel, doch wenigstens hatten sie ein Dach über dem Kopf und feste Wände, die ihnen Schutz vor dem Seewind boten. Hier könnten sie sich eine Weile verbergen, den Ausgang der Unruhen abwarten und ausruhen. Und danach?
Als habe der Hakim ihre Beklemmung gespürt, schlug er die Augen auf und tastete nach ihrer Hand.
» Geht es dir gut, lieber Abu?«
» Gut genug«, antwortete er leise. Er schaute sie prüfend und aufmerksam an.
» Ich bin ein wenig müde, Abu«, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage und bemühte sich, ihrer Stimme einen zuversichtlichen Klang zu geben. » Aber wir haben es geschafft.«
» Ganz recht, dank deiner Umsicht. Gestern und in der vergangenen Nacht habt ihr Großes geleistet, du und dein Freund aus fernen Tagen. Nun vertreibe die Wolken, die deine Stirn verdunkeln.« Der Atem ging ihm aus, und es dauerte eine Weile, bis er fortfahren konnte. » Letzte Nacht«, sagte er, und sein liebevoller Blick schien sie zu streicheln, » letzte Nacht ging etwas zu Ende, etwas Schönes, das uns beide mit Freude erfüllt hat.« Pause, Luftholen. Kurze, heftige Atemzüge weiteten seine Nasenflügel.
» Nicht reden, Abu, du musst deine Kräfte sparen.«
» Gleich. War es nicht ein schönes Leben für uns beide?«
» Natürlich! Wir hatten es gut miteinander, und das bleibt auch so. Weißt du noch, deine ersten Versuche mit den Schnecken? Und bis die Kalkbrennerei endlich zufriedenstellend lief? Das war schön und aufregend. Aber nun musst du dich ausruhen.«
» Wozu?« Ungeduldig wischte der Hakim ihre Sorge beiseite. » Ich bin sehr stolz darauf, was du alles vollbracht hast. Doch wisse, liebe Tochter, du kannst nicht alles allein zum Besseren wenden, nicht alles allein lenken. Niemand kann das. Man muss lernen, den Dingen ihren Lauf zu lassen, auch du. Die Zukunft, sie liegt in den Händen des Allmächtigen.«
Mirijam fühlte Ärger in sich aufsteigen. Hatte sie nicht genau das stets getan, den Dingen ihren Lauf gelassen? Hatte sie denn überhaupt jemals etwas anderes gemacht?
Einen Augenblick stockte sie angesichts dieser Erkenntnis. Es stimmte: So weit sie auch zurückschaute, noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas Wesentliches selbstständig und frei entschieden, allein nach ihrem eigenen Willen. Stets waren es die Umstände gewesen, die über sie bestimmt und ihre Schritte gelenkt hatten. Den Dingen ihren Lauf lassen, das brauchte sie jedenfalls nicht eigens zu lernen, eher im Gegenteil! Was wäre denn, wenn sie einmal nach ihrem Kopf, ihrem Herzen handelte? Bald wurde sie Mutter, musste sie nicht schon um ihres Kindes willen ihr Leben endlich in die eigene Hand nehmen? Und was brachte den Abu gerade jetzt dazu, von einer Zukunft, die in den Händen des Allmächtigen lag, zu sprechen?
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Hastig griff Mirijam nach weiteren Decken, um sie rund um den alten Hakim zu stopfen. Er schien zu frieren, außerdem atmete er schwer. Aus ihrer Medizinkiste kramte sie einen Beutel mit Heilkräutern hervor.
Ein erneuter Anfall bahnte sich an. Der alte Mann keuchte immer schlimmer, und Mirijam richtete ihn rasch auf seiner Bettstatt auf. Wie furchtbar schwach der Arme war! Beängstigende Geräusche rollten
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