Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln
entgegen Allahs Gebot Bilder von Menschen anzufertigen. Hielte nicht der Sheïk seine Hand über ihn, wer weiß, ob sich die anderen im Lager nicht allmählich gegen ihn wenden würden. Doch auch dessen Schutz konnte eines Tages bröckeln. Der marabout und Sheïk Amir pflegten ein höfliches, recht sprödes Verhältnis zueinander, das nicht von Freundschaft, sondern eher von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt war. Während Sîdi Mokhbar den Koran rezitierte und leidenschaftlich gegen die Ungläubigen und ihre Verderbtheit wetterte, nutzte der Sheïk die aufgeheizte Stimmung und lenkte den Tatendurst seiner Krieger in blitzschnelle Attacken gegen die portugiesischen Besatzer um. Ihre glorreiche Vergangenheit und strahlende Zukunft, davon sprachen die Krieger gern, andere Themen kannten sie nicht.
Plötzlich blitzte es weit entfernt an Land mehrmals grell auf, dann dröhnten einige Donnerschläge herüber. Die Schlacht um Mogador hatte begonnen. Alle an Bord erstarrten.
Mirijam löste sich aus Cornelisz’ Arm und richtete sich auf, um besser sehen zu können. Dann setzte sie sich neben ihren alten Vater und nahm dessen Hand.
Der Kapitän und seine Männer sprachen die erste Sure des Quran, die erschreckten Blicke dem Land zugewandt, von wo der Donner kam und hin und wieder ein Feuer aufleuchtete. Das Segel flatterte und knallte gegen den Mast. Während die Männer beteten, rollte das im Moment führungslose Boot auf den Wellen. Immer näher kam das Geräusch einer Brandung über den zahlreichen Felsen, von denen die Küste gesäumt war.
Dann aber machte der Kapitän der Betäubtheit, die sich an Bord ausgebreitet hatte, schlagartig ein Ende.
» Achtet auf das Segel!«, brüllte er. » Legt Kurs Süd an und schaut, dass wir endlich ein paar Meilen vorankommen! Los, los, los, yallah, mit Allahs Hilfe! Oder wollt ihr, dass wir uns alle an den Klippen den Hals brechen?«
65
Im Laufe der Nacht wurde es zwar feuchter und kälter, und es kam auch ein wenig Nebel auf, doch wenigstens ließ das Meer sie gewähren. Der Kapitän stand am Ruder und gab knappe Anweisungen. Was geschah gerade in Mogador? Wie erging es den Freunden und Verwandten dort? Man spürte, wie jeder seinen Gedanken nachhing.
Immer noch konnte Mirijam kaum fassen, wie radikal sich ihr Leben erneut verändert hatte. Bereits zum dritten Mal wurde sie gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen – und das ausgerechnet jetzt, wo sie dringend ein Heim für sich und ihr Kind benötigte. Sie schützte ihren Leib mit beiden Händen.
» Immerhin befinden wir uns in Sicherheit, dafür müssen wir dankbar sein«, sagte der Alte leise, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Mirijam beugte sich über ihn. » Hast du die Kanonen gehört?«
» Natürlich. Und sie haben mich ebenso geschmerzt wie dich. Aber wir sind keine Palmen, wir haben Beine statt Wurzeln, verstehst du? Wir werden nach vorne schauen. Vergiss den Kanonendonner, der Wind hat ihn bereits verweht. Gib mir deine Hand, Tochter.« In Decken gewickelt und mit geschlossenen Augen lag der alte Arzt auf seinem Lager. Er schwieg. Doch immer wieder fuhren seine Finger über Mirijams Hand, streichelten sie und gaben ihr Wärme und Halt.
Nach vorne schauen? Ja, das war seine Art, dachte Mirijam. Soweit sie über sein Leben Bescheid wusste, hatte er niemals aufgegeben, und auch in den schwierigsten Situationen war ihm ein Ausweg eingefallen. Einmal hatte sie es am eigenen Leib miterlebt, damals, als sie vor dem Pascha aus Tadakilt geflohen waren.
» Wohin werden wir dieses Mal gehen, Abu? Hast du bereits einen Plan?«, fragte sie leise.
» Du wirst einen guten Platz finden. Einen, an dem du dein Kind in Ruhe aufziehen kannst«, antwortete der Alte.
Mirijam wollte seinen Worten gern glauben. » Vielleicht wieder ein Haus mit einem schönen Innenhof und einem Garten? Die Orangen werden bald reif sein …« Ihre Stimme zitterte, und eine Träne lief über ihr Gesicht, als sie an ihren kleinen Garten in Mogador dachte.
» Mit Allahs Hilfe. Ich hätte ebenfalls gern noch einmal eine von deinen Orangen gekostet, doch man weiß niemals, wann man etwas zum letzten Mal tut«, sagte der Alte. » Den Beginn bemerkt jeder, nicht jedoch das Ende.« Der Hakim drückte ihre Hand. » Du bist noch jung, und auf deinen Schultern sitzt ein kluger Kopf. Du wirst sehen, schon sehr bald erkennst du den Weg, den du gehen willst und der dich zu deinem neuen Anfang führt. Alles wird sich zum Guten wenden.«
Ihre Beine brannten, und
Weitere Kostenlose Bücher