Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln
Hitze fühlte sie sich wohl. Die Muskeln schmerzten nicht mehr, wie noch zu Beginn ihrer Reise, und seitdem sich Harun und Omar um die Kamele kümmerten, hatte sie endlich Zeit, sich in der Wüste genauer umzuschauen. Am meisten faszinierten sie die weiten Gerölltäler mit den auf der Oberseite wie schwarz gelackten Steinen, die auf der Unterseite aber hell leuchteten. An ihnen konnte man genau erkennen, wo jemand gegangen war und das Geröll bewegt hatte. Dünen und Sandwehen gab es reichlich, in unterschiedlichen Farben, mal ziegelrot, mal purpurn, dann wieder nahezu weiß oder hellbraun. Ihre liebste Stunde war die letzte der Tagesetappe, bevor sie das Nachtlager aufschlugen. Die Sonne war dann bereits abgetaucht, hatte Wind, Sand und Tageshitze mit sich genommen, und endlich konnte man die Lunge tief mit reiner, kühler Luft füllen.
Vor dem Einschlafen, während die anderen am Feuer saßen, wanderten ihre Augen so lange über den unendlichen Sternenhimmel, bis sie schwer wurden. Oft tauchten in den letzten Momenten des Wachseins Bilder von früher auf, Kaleidoskopsplitter aus Antwerpen, von Muhme Gesa und ihrem Vater und auch von Cornelisz. Gleich darauf sank sie in tiefen Schlaf. So bekam sie nicht mit, dass der Sherif jeden Abend an ihr Lager trat, sich vergewisserte, dass es ihr gut ging und die Decken fest um sie stopfte. Erst danach begab er sich selbst zur Ruhe.
Hin und wieder streifte sie beim Aufwachen eine Ahnung, dass sie des Nachts eine weite Reise gemacht und von der alten Heimat geträumt hatte. Sie konnte sich zwar nie an den genauen Inhalt dieser Träume erinnern, aber das war nicht wichtig. Es ging um dieses Gefühl von Sicherheit aus der Kindheit, das sie aus den Träumen in den Tag mit hinübernahm und das ihr guttat. Außerdem war Abu Alî, der sie zu seiner Tochter erwählt hatte, bei ihr. Selten hatte sie sich so beschützt gefühlt wie in diesen Momenten.
Manchmal, wenn sie mittags wegen der Hitze rasteten, setzte der Hakim Mirijams Unterricht fort. Meistens aber ruhte er, um bei Kräften zu bleiben. In solchen Stunden suchte sie sich einen Platz abseits des Lagers. Hier, allein zwischen den Dünen, fand sie die nötige Muße für die Stimmübungen, die ihr der Hakim aufgegeben hatte. Schon seit einiger Zeit spürte sie ein Brummen in Brust und Kehle, etwas, das beinahe greifbar war und sich anfühlte, als ließe es sich irgendwann formen. Natürlich konnte sie nicht sprechen, das nicht, aber eine winzige Hoffnung schlich sich allmählich in ihr Herz. Schaden konnten die seltsamen Verrenkungen und Turnereien jedenfalls nicht.
So lockerte sie zunächst Rücken und Nacken, breitete die Arme aus und ließ die Luft langsam durch die Kehle ein- und ausströmen. Eine langweilige Übung, fand sie, aber sie achtete trotzdem darauf, keine der angeordneten zwanzig Wiederholungen zu vergessen. Danach boxte sie mit geballten Fäusten in die Luft, zunächst aufwärts, dann nach unten, Richtung Boden, und presste dabei die Atemluft durch die geschlossenen Lippen. » Pa«, tönte es leise, und wieder » Pa!«, wie der Hakim es ihr gezeigt hatte. Diese Übung gefiel ihr schon besser. Dennoch hoffte sie inständig, dass ihr niemand dabei zusah. Manchmal hüpfte und tanzte sie aber auch durch den Sand, und das war das Beste. Dabei schnitt sie Grimassen und bewegte Mund und Zunge, und irgendwann gelang es ihr tatsächlich, ein kurzes, aber immerhin hörbares » Dada« oder » Dodo« zu erzeugen. Obwohl sie nur leise Geräusche hervorbrachte, klangen sie im Kopf doch bereits ein wenig wie früher, als sie ihre eigene Stimme ganz selbstverständlich gehört und gespürt hatte. Vielleicht, dachte sie, und das Herz klopfte ihr dabei bis zum Hals, vielleicht hatte Abu doch recht. Er glaubte nämlich unbeirrt an ihre Heilung, und er war immerhin ein Heiler, einer, der alles wusste.
Die heiße Luft brannte in ihrer Lunge, und sie war geblendet vom gleißenden Sand. In endlosen Wellen breitete er sich wie ein Meer nach allen Seiten aus. Bereits seit dem frühen Morgen kündigte der Himmel mit Hitze und schweren, gelbgrauen Wolken einen Sandsturm an. Der Hakim spürte sein Näherkommen, und auch Harun und Omar blickten besorgt zu den Wolken hinauf.
» Schneller, Azîz, mein Sohn, wir müssen schneller reiten! Ein samum zieht herauf. Ein solcher Sandsturm kennt keine Gnade.«
Alî el-Mansour holte seine gerba hervor, nahm rasch einen Schluck Wasser und ließ dabei den Blick über die vor Hitze flirrenden Dünen
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