Purpur ist die Freiheit 01 - Das Leuchten der Purpurinseln
klar wurde. Wahrscheinlich, nein, sogar sicher hatte sich irgendwann das Seil gelöst, und die Stute hatte sich selbstständig gemacht, die Karawane verlassen und eine andere Richtung eingeschlagen. Den Strick fest in der Faust kroch sie zu dem Kamel, das sie als dunklen Schatten in der Sandwolke ausmachen konnte.
Wo waren die anderen? Sie versuchte, sich aufzurichten, um nach dem Hakim und den beiden Treibern zu schauen, doch der Wind fegte sie von den Füßen. Jeder Versuch, die anderen zu finden, würde sie gefährden, sie musste ausharren, bis der Sturm nachließ. Irgendwann musste der Sandsturm ja abflauen, beruhigte sie sich, sie musste nur Geduld haben. Zum Glück hatte sie ja ihren eigenen Wasservorrat. Geduckt und mit zusammengekniffenen Augen kroch sie um das Kamel herum, tastete nach Zaumzeug und Sattel und durchsuchte das daran hängende Gepäck. Weder der Ziegenbalg mit dem Wasser noch ein zweites Seil waren zu finden. Der Sand geißelte ihr Gesicht. Trotzdem schob sie sich ein weiteres Mal an der Stute entlang, betastete die Seiten des Tieres und jedes einzelne Stück, das am Sattel befestigt war. Sie strich über das Fell des Kamels, befühlte und untersuchte alles.
Nichts.
Nichts?
Kein Wasserbalg.
Wie lange konnte ein Mensch ohne Wasser auskommen?
Mirijam bekam keine Luft. Sie barg den Kopf in der Armbeuge und hustete und spuckte. Überall Sand, in den Augen, in der Nase, im Mund. Rasch kroch sie an die Flanke des Kamels und duckte sich. Sie wickelte sich fest in ihren burnus, den wollenen Umhang, und zog die Kapuze über Kopf und Gesicht. Jetzt war es zwar noch heißer, aber wenigstens konnte sie atmen, ohne Sand in die Lunge zu bekommen. Geschützt durch chêche und Kapuze senkte sie den Kopf auf die Knie. Sie musste ruhiger werden, langsamer atmen, Geduld haben. Das war schwer, denn alles in ihr wollte aufspringen und dieser Hölle entkommen. Ein Rest von Vernunft jedoch sagte ihr, sie müsse ausharren und alles tun, um ihrer quälenden Furcht Herr zu werden. Ihr Leben hing davon ab.
Seitdem sie wusste, dass sie keinen Tropfen zu trinken hatte, konnte sie nur noch an Wasser denken, an viel Wasser, an frisches, kühles, perlendes Wasser, das sie in sich hineinschüttete. Ohne Wasser musste sie sterben.
Unwillkürlich spannten sich immer wieder ihre Muskeln an, bereit aufzuspringen, und nur mit Mühe konnte sie diesen Impuls bezwingen. Von Zeit zu Zeit gelang es ihr, etwas Speichel im Mund zu sammeln und hinunterzuschlucken. Dicht presste sie sich an den großen Körper des Kamels, das reglos neben ihr lag, Augen und Nüstern geschlossen, und ruhig atmete. Ausgerechnet dieses störrische, hochmütig blickende Tier, das sie erst in diese schreckliche Lage gebracht hatte, war nun ihr einziger Schutz!
Sie verharrte neben der Stute und konzentrierte sich darauf, im gleichen Rhythmus wie das Kamel zu atmen, während der Sturm um sie herum tobte und brüllte und den Sand noch durch die kleinste Undichtigkeit des Stoffes presste. Von Zeit zu Zeit, wenn sie das Gefühl hatte, das Gewicht laste allzu schwer auf Kopf und Nacken und der Sand könne sie mit der Zeit erdrücken, ruckelte Mirijam hin und her, so dass er von ihr rutschte und der Druck geringer wurde. Dann saß sie erneut still. Sie atmete und wartete. Auch das Kamel rührte sich nicht. War es tot? Doch unter ihrer Hand spürte Mirijam, wie sich sein Leib bei jedem Atemzug hob und senkte.
Jetzt einen Schluck Wasser, dachte sie vielleicht an die tausendmal, während der Mund langsam austrocknete und die Lippen aufsprangen. Die Zunge schwoll an und füllte den Mund aus. Oder bildete sie sich das nur ein, weil sie gehört hatte, dass so etwas geschah, bevor man verdurstete? Einen einzigen, winzigen Tropfen Wasser nur … Das Atmen wurde schwerer, um jeden einzelnen Atemzug musste sie ringen. Vor ihrem inneren Auge tauchten die von Sonne und Wind gebleichten und geschliffenen Kamelknochen auf, an denen sie unterwegs vorübergekommen waren. Würde man auch ihre Knochen eines Tages hier finden, bleich und unkenntlich? Und wenn sie jetzt sterben musste, würde sie dann Lucia wiedersehen, ihren Vater und Lea, ihre Mutter? Bei diesen Gedanken war es vorbei mit der mühsam errungenen Ruhe. Das Herz begann zu rasen, Hände und Bauch verkrampften sich, und nur mit äußerster Anstrengung zwang sie sich, am Platz zu bleiben.
Genauso unvermittelt, wie der Sturm begonnen hatte, hörte er auf. Drehte der Wind vielleicht und kam danach in derselben
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