Purpur ist die Freiheit 02 - Die Perlen der Wueste
Dennoch quälten sie oft genug trübe Gedanken, die sie den ganzen Tag verfolgten. Sie versuchte sie zu verdrängen, denn allen Selbstanklagen und Gewissensqualen zum Trotz musste sie nach vorn schauen.
An guten Tagen, wenn ihr eine vollendete Stickerei gelang und sich das Kind in ihr regte, empfand sie eine ungewohnte Stärke. Ganz sicher würde es ihr gelingen, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben, und sie würde keinen Illusionen mehr anheimfallen, damit war es ein für alle Mal vorbei, sagte sie sich voller Zuversicht. Sie spürte, wie ihr der Anblick der Perlen neuen Mut gab. Aber es gab auch andere Tage, an denen sie nur hoffen konnte, den Schmerz über Marinos Verrat irgendwann zu überwinden, oder an denen ihre Gedanken bei ihren Eltern und in Mogador weilten. An solchen Tagen wollte die Enge in ihrer Kehle nicht weichen.
Yasmîna, die als Köchin bei Monna Giulia blieb, bis Sarah eine größere, zugleich bezahlbare Bleibe für sie beide fand, besuchte sie häufig und versorgte sie mit Essen, das vertraut duftete und nach Zuhause schmeckte. Darüber hinaus leistete ihr hin und wieder der kleine Filippo Gesellschaft. Er kam gern, besonders als es kälter wurde. In Sarahs Kammer konnte er sich aufwärmen, und in der Wirtshausküche fand sich oft eine Kleinigkeit zu essen für ihn. Gabriella brummte dann zwar, doch Sarah hatte beobachtet, wie sie dem Kleinen im Vorübergehen zärtlich das Haar verstrubbelte. Auch die Wirtin kam gern herauf, vordergründig, um ihr ein wenig die Einsamkeit zu vertreiben, in Wahrheit aber wegen der angenehmen Ruhe in ihrem Zimmer. Während unten in der Wirtsstube Arbeiter, Handwerker und Seeleute Berge von Essen in sich hineinschaufelten und zechten und lärmten, was das Zeug hielt, herrschte bei Sarah behaglicher Friede. Und als Gabriella Sarahs wachsenden Bauch richtig gedeutet hatte, brachte sie ihr hin und wieder ein mit Zucker und Wein verrührtes Ei als Stärkungsmittel.
Seitdem Sarah gehört hatte, wie betrunkene Arbeiter untereinander Wetten abschlossen, wer sie wann herumkriegen würde, hatte sie sich angewöhnt, frühmorgens an die frische Luft zu gehen, wenn nur Handwerker und Hausfrauen das Viertel bevölkerten und die Zecher noch ihren Rausch ausschliefen. So konnte sie sich lange vor der Mittagszeit wieder in ihrer Kammer einschließen und vermied den Spießrutenlauf durch die Wirtsstube, begleitet von anzüglichen Bemerkungen, gegrölten Angeboten und grabschenden Händen.
Sarah arbeitete unentwegt, zumeist still und in sich gekehrt. Nur gelegentlich gab sie sich Tagträumen hin. Einige Male kam ihr dabei Saïd in den Sinn, und sie sah die wilden Landschaften vor sich, die sie gemeinsam durchquert hatten. Dann wieder stellte sie sich vor, in Mogador auf den Felsen am Hafen zu sitzen oder vom Turmzimmer aus den Blick über die weite Bucht gleiten zu lassen, während über den Hügeln die Sonne aufging. Spürte sie dann nicht sogar ihre Wärme auf der Haut?
Manchmal aber, wenn sie nicht achtgab, stiegen Erinnerungen an Marino auf, so lebendig, dass sie seine Hände auf ihren Brüsten spürte, auf ihrem Bauch, seinen Mund in ihrem Haar … Eines Nachts erwachte sie aus einem dieser verstörenden Träume. Sie erschrak bis ins Mark und sprang aus dem Bett. Dieser Traum war der Beweis ihrer Verderbtheit, sie war eben doch nicht besser als jede dahergelaufene Hure!
Mit fliegenden Händen kleidete Sarah sich an und hetzte durch die Nacht, bis sie an der weiten Mündung des Canal Grande zum Stehen kam. Sie hielt sich die Seiten, die vom raschen Gehen schmerzten, betrachtete die Spiegelungen auf dem schwarzen Wasser, die Silhouette der dogana auf dem anderen Ufer und lauschte den gedämpften Geräuschen der nächtlichen Stadt. Die Lagune – es wäre ein Leichtes, sich hineinfallen zu lassen. Sie betrat die Treppe nach unten. Das Wasser kam ihr entgegen, es leckte schon an der nächsten Stufe. Noch einen Schritt, und dann … Tag für Tag zog man Wasserleichen aus den Buchten der umliegenden Inseln, junge und alte, Männer und Frauen, und besonders viele Neugeborene. Manche waren eines natürlichen Todes gestorben, andere hingegen … Hurenkinder, hatte sie sagen hören, wie das ihre. Sie stand am Wasser, bis es hell wurde.
Sarah zitterte immer noch, als sie längst wieder an der Arbeit saß und Rebecca zur Tür hereinkam. Es dauerte nicht lange, bis sie ihr unter Schluchzen das Herz ausschüttete.
*
Unsicher, ob er sein Bett nachts, wenn ihn ein Bedürfnis
Weitere Kostenlose Bücher