Purpur ist die Freiheit 02 - Die Perlen der Wueste
Afrika, über der die Fahne eines aus venezianischer Sicht bedeutungslosen Sultans wehte und die sich auch sonst nicht im Entferntesten mit Venedig messen konnte?
Bisher hatte sie kaum jemals über die Stellung oder den Wohlstand ihrer Eltern nachgedacht, dazu hatte es keinen Anlass gegeben. Seitdem sie allerdings ein Kind hatte, empfand sie von Tag zu Tag deutlicher, dass sie nun eine große Verantwortung trug. Manchmal schreckte sie aus dem Schlaf hoch, sprang aus dem Bett und vergewisserte sich, dass die Kleine wohlauf war, dass sie atmete und sicher und warm in ihrem weichen Bettchen lag.
An Marino dachte sie nach Möglichkeit nicht. Nicht, dass diese Gedanken noch sonderlich geschmerzt hätten, davon war zu ihrer eigenen Überraschung keine Rede mehr. Aber sie konnte nicht an ihn denken, ohne sich zugleich selbst den Spiegel vorhalten zu müssen. Natürlich hatte er ihre Arglosigkeit ausgenutzt, aber sie hatte es ihm auch leicht gemacht. Wie eine Himmelserscheinung war er damals aufgetaucht und hatte sie mit seinen strahlenden Augen und schmeichelnden Worten geblendet, aber nun, da er verschwunden war, fehlte er ihr nicht einmal. Noch vor einem Jahr hatte sie gedacht, nicht ohne seine Liebe leben zu können, und inzwischen hatte sich die ihre in nichts aufgelöst. Wenn sie jedoch an Margalis zarten Körper, an die winzigen Fingerchen und ihr noch zahnloses Lächeln dachte, bedauerte sie nichts. Margali würde ihr bleiben.
Die Kleine gedieh prächtig, und sie konnte sich kaum an ihr sattsehen. Natürlich schlief sie viel, doch sobald sie erwachte und ihre Mutter anlächelte, quoll Sarahs Herz über.
Sarah seufzte und wandte sich ihren Entwürfen zu. Dank Pacellis Hilfe und dank ihrer Arbeit ging es aufwärts, sie konnte sich selbst ernähren und regelmäßig einen Teil ihrer Einnahmen beiseitelegen. Und seitdem eine der gefragtesten Schneiderinnen der Stadt bei ihr arbeiten ließ, musste sie sogar immer häufiger zusätzliche Stickerinnen beschäftigen. Es gab so viel zu tun. Hoffentlich gelang es ihr, diesen Anfangserfolg weiter auszubauen.
Mittlerweile griff sie nicht mehr nur auf ihre eigenen Erfahrungen zurück, sondern zunehmend auch auf Anregungen der Näherinnen. Wenn schon nicht die noblen Kundinnen, so akzeptierten sie wenigstens Putzmacherinnen und Schneiderinnen. Ihnen verdankte sie auch ihre neuesten Kreationen, die bestickten Beutel für all jene Kleinigkeiten, die eine Dame tagsüber begleiteten. Ein hübscher und praktischer Einfall. Was sie den verwöhnten Venezianerinnen wohl als Nächstes in den Kopf setzen konnten?
Unten auf dem kleinen Kanal glitt ein Kahn vorüber, am Ruder ein gebeugter Mann, der das Boot mit gleichmäßigen Bewegungen vorantrieb. Sarah zuckte zurück, als sie die Fracht erkannte: reglose, in Leintücher eingewickelte Gestalten. Ein Totenkahn! Sie schlang ihr Tuch ein wenig fester um die Schultern. Von Krankheiten, die regelmäßig ausbrachen und innerhalb kurzer Zeit viele Opfer forderten, hatte sie erst hier, in dieser übervölkerten Stadt, erfahren. Zuhause gab es das nicht. Zuhause …
Bei seinem Aufbruch vor beinahe zwei Monaten hatte sie Kapitän Pacelli einen Brief an die Eltern mitgegeben, den er in Wahran hoffentlich einem verlässlichen Händler oder Kapitän hatte anvertrauen können. Pacelli würde bald wieder nach Venedig zurückkehren, doch natürlich konnte er dann noch keine Antwort erhalten haben, die Entfernung zwischen Santa Cruz am Atlantik und den Mittelmeerhäfen war einfach zu groß. Aber wenigstens hatte sie ihr Gewissen erleichtert und erstmals Nachricht von sich gegeben.
Gleich nach Margalis Geburt hatte sie begonnen, alles niederzuschreiben, was ihr seit ihrer heimlichen Flucht widerfahren war und seither auf der Seele lag. Ströme von Tränen hatte sie dabei vergossen. Rebecca behauptete zwar, viele junge Mütter weinten in den ersten Wochen nach der Entbindung, sie wusste jedoch, ihre Tränen entsprangen der Sehnsucht und ihrem Gefühl von Schuld. Wie selbstsüchtig sie den Eltern gegenüber gehandelt hatte, als sei sie als ihr Kind berechtigt, ihnen Schmerzen zuzufügen, hatte sie erst allmählich verstanden. Heute schämte sie sich dafür.
In ihrem Bekenntnis an die Eltern hatte sie ihre Reise unter Saïds Schutz geschildert, die Fahrt auf der San Pietro e Paolo, und auch ihre Erfolge mit der Perlenstickerei erwähnt. Die Not der ersten Wochen und vor allem den Schock, den ihr Marinos Verachtung versetzt hatte, streifte sie hingegen
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