Purpur ist die Freiheit 02 - Die Perlen der Wueste
lauschte den sich entfernenden Trippelschritten des Esels, dann lief sie weiter.
Nurzah hatte gesagt, wenn Saïd hier gewesen wäre, hätte er das Unglück verhindert. Welches der verschiedenen Unglücke der letzten Zeit sie damit gemeint hatte, war Safia nicht klar, dennoch glaubte sie Nurzah. Ihrem Onkel Saïd konnte man vertrauen, er konnte sogar Geheimnisse bewahren, das wusste sie aus eigener Erfahrung.
Sie würde Saïd alles genau berichten, ihm Mutters Erkrankung schildern und auch alles andere, und sie würde ihm sagen, was in der Kasbah los war und dass sie nichts mehr zu essen hatten. Vor allem aber, und das war neben Mutters Krankheit das Wichtigste, vor allem würde sie ihm von Cherifs und M’Bareks Verschwinden berichten. Er würde wissen, was zu tun war, das wusste er immer, und schon bald würde alles wieder gut werden, redete sie sich Mut zu.
Wenn die Mutter des amghar allerdings von ihrem nächtlichen Ausflug erfuhr … Waren da etwa Schritte zu hören? Safia hielt inne und lauschte erneut. Irgendwo schrie ein Esel, und in der Ferne hörte man Trommeln- und Flötenmusik, sonst aber blieb alles still. Unter einer geschnitzten Tür drangen schwere Gerüche hervor, nach Öl und Fleisch und Zimt. Hier wurde ein Festmahl bereitet, vermutlich zu Ehren eines der Karawanenmänner. Tief sog Safia den köstlichen Duft ein, schluckte und hielt sich den Bauch. Sie hatte Hunger – vor allem aber Angst. Schließlich war sie noch nie nachts allein in der Stadt unterwegs gewesen, das gehörte sich nicht für ein Mädchen ihres Alters, und schon gar nicht für eine Tochter der Aït el-Amin. Ihre Mutter achtete darauf, dass ihre Schwester und sie sich angemessen verhielten, ihre Familie sollte als Vorbild gelten. Heute jedoch war ihr das egal. Alles, was Vater und Mutter ihr erklärt hatten und als unverrückbar und verlässlich gegolten hatte, schien sich gerade in Luft aufzulösen.
Zuerst kam ihr Vater nicht zurück, dann verschwanden die beiden kleinen Brüder, und nun war auch noch ihre Mutter derart schwer erkrankt, dass sie ihre Töchter nicht mehr erkannte.
Safia lief weiter. Immer noch hatte sie den Duft des Mahls in der Nase, das hinter der fremden Tür zubereitet wurde. Dort versammelte sich jetzt sicher die Familie um eine große Platte mit dampfendem, köstlich nach Zimt und Koriander duftendem Couscous, tauchte die Finger hinein und formte kleine Bällchen . Sie presste beide Hände auf den leeren, schmerzenden Bauch. Wenn sie ihrer Mutter wenigstens etwas Stärkendes zu essen geben könnten, dachte sie, aber nicht einmal das war möglich! Seit Tagen hatten sie nichts als altes Brot, das sie ihr, in Tee eingeweicht, in den Mund schoben.
Sie lauschte erneut in die Dunkelheit. Alles war ruhig, außer ihr schien niemand unterwegs zu sein. Jetzt war es sowieso nicht mehr weit, nur noch an den letzten Häusern vorbei, dann ein Stück den Weg entlang, den die Oasenbauern nahmen, wenn sie zur Feldarbeit in ihre Gärten gingen . Sie hastete um die nächste Ecke. In der Eile verlor sie einen ihrer Pantoffeln. Safia stützte sich an eine Mauer, balancierte auf einem Bein und angelte mit dem anderen Fuß nach dem Schuhwerk.
Dabei legte sie sich die Worte zurecht, die sie gleich zu ihrem Onkel sagen würde: » Meine Brüder sind zwar unbedacht, aber niemals würden sie …«
Plötzlich schoss aus dem Dunkel ein Arm hervor, legte sich um ihren Hals und hielt sie fest.
39
Venedig
Trotz der frühen Stunde war Sarah bereits hellwach, und nachdem sie ihre kleine Tochter versorgt hatte, lehnte sie an der Brüstung der Terrasse und sah zu, wie die letzten Sterne verblassten und ganz allmählich die Morgenröte heraufzog. Noch lag die Nachtkühle über der Stadt, der klare Himmel jedoch versprach einen warmen Tag. Damit einher ging leider auch der zunehmende Gestank von Fäulnis, der besonders in der Wärme und an windstillen Tagen aus den Kanälen aufstieg, aber jetzt war die Luft noch frisch und süß.
Oft nutzte sie die Ruhe am Morgen, um sich ihren Entwürfen zu widmen, heute jedoch gingen ihr dazu zu viele Gedanken durch den Kopf.
Was die noblen Venezianerinnen von ihr erwarteten, war ihre Kunst, nicht ihre Gesellschaft. Dabei konnte sie durchaus mit sich zufrieden sein, besonders, wenn sie überlegte, wie elend es ihr noch vor wenigen Monaten gegangen war. Dennoch, dazugehören würde sie nie. Wie sollte sie auch, mit einer jüdischen Mutter und einem portugiesischen Vater und mit einer Heimatstadt in
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