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Purpurdämmern (German Edition)

Purpurdämmern (German Edition)

Titel: Purpurdämmern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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betrachtete eine Zeit lang ihre Atemzüge und zog sich schließlich zurück, auf die andere Seite der Halle, so leise er konnte.
    Santino hatte ihn Kugeln machen lassen. Kugeln aus Kissen, Kugeln aus Wasser, Kugeln aus Luft. Harte Kugeln, weiche Kugeln, Hauptsache rund. Dann Kugeln, die in anderen Kugeln steckten. Stell dir eine Form vor und lass sie entstehen.
    Kugeln, während Santino ihn mit Kissen bewarf.
    Konzentration, auch wenn die Welt um dich nicht stillsteht. Was, wenn du mitten in einem Orkan einen Schutzschild errichten willst? Der Orkan hält nicht an, bis du fertig bist.
    Kugeln mit Mustern, mit Punkten und Strichen. Kugeln in Regenbogenfarben.
    »Und morgen«, hatte Santino mit einem diabolischen Lächeln verkündet, »morgen machen wir mit Seilen weiter. Jetzt geh und lies das verdammte Buch.«
    Er setzte sich in eine Fensternische, ignorierte das Heulen der Spalthunde und klappte das Buch auf.
Die Kraft der Imagination,
geschrieben von
Meister Quin
. Während er die blumige Einführung las, musste er die ganze Zeit blinzeln, weil die Buchstaben nicht stehen bleiben wollten. Lag das an ihm, oder am Licht? Meister Quin, das klang wie ein japanischer Kampfmönch oder wie ein Jedi-Meister. Seine Gedanken schweiften ab. Es gelang ihm nicht, sich länger als einen Satz zu konzentrieren. Meister Quin schrieb seine Bücher auf Englisch? Wieso malte der nicht japanische Schriftzeichen mit einem kleinen Tuschepinsel? Die Buchstaben tanzten, und plötzlich starrte er auf Kanji, schwarz gestochen auf weißem Grund. Was war das denn?
    Plötzlich ging ihm ein Licht auf.
    »Ah«, wisperte er. »Jetzt wieder Englisch, okay?«
    Die Kanji-Zeichen flackerten und tanzten.
    »Englisch!«
    Keine Reaktion. Er schloss die Augen und stellte sich Meister Quin vor, einen Harvard-Professor, der in perfektem Englisch seine Aufsätze tippte. Er blinzelte durch die Wimpern. Die Buchstaben verschwammen.
    »Imagination ist die Macht unserer Vorstellungskraft«, stand dort. Auf Englisch. Er hielt das Professorenbild in seinem Kopf fest und las weiter. Die Buchstaben verfestigten sich. Und hielten.
    Raffiniert. Das Buch präsentierte sich in der Sprache, die der Leser sich wünschte. Ob Santino das aufgefallen war?
    Das Lesen ging leichter, nachdem er einmal begriffen hatte, dass er sich nicht ablenken lassen durfte. Drei Kapitel später begannen die Buchstaben erneut vor seinen Augen zu tanzen. Entnervt ließ er das Buch sinken. Er konnte sich nicht konzentrieren und wusste sogar, warum.
    Die ganze Zeit ging ihm Marielles bedrücktes Gesicht im Kopf herum. Bestimmt machte sie sich Sorgen, was ihr Freund, der geheimnisvolle Buchstabensammler, sagen würde, wenn er seinen Garten in eine Schlammwüste verwandelt vorfand. Vermutlich gab sie sich selbst die Schuld, weil sie sie alle erst hergebracht hatte.
    Vielleicht konnte er das Malheur doch wieder in Ordnung bringen. Also vielleicht nicht gerade den Originalzustand wiederherstellen, bevor er die halbe Vegetation abgefackelt hatte. Aber wenigstens die schlimmsten Verheerungen beseitigen, das konnte er. Schließlich hatte er den ganzen Tag über geübt, auf ein Fingerschnippen Kugeln beliebiger Form und Farbe zu erschaffen. Es gab keinen Grund, warum das nicht auch mit Blumen funktionieren sollte. Ja genau, er würde einfach frische Blumen ansäen, wo zuvor das Schilf gestanden hatte.
    Er legte das Buch beiseite und stieg hinauf aufs Dach. Schuttbrocken verwandelten das letzte Stück der Treppe in einen Hindernisparcours. Er lief durch das Wäldchen, schlüpfte auf der anderen Seite ins Freie und blieb am Rand des Schlammfelds stehen.
    Okay, Blumen. Er starrte auf das Meer der Verwüstung und stellte sich Blumen vor. Gelber Stempel, rote Blüten, grüner Stiel. Ein paar der Schilfbüschel begannen sich zu verformen. Rote Blüten, grüner Stiel. Er stieß den Atem aus und blinzelte. Was da aus dem Boden ragte, waren flache Holzschnitt-Blumen, wie man sie im Kindergarten ins Fenster klebt. Ein viereckiges Brett als Stiel, darauf ein gelber Kreis, angeklebt fünf rote Kreise.
    Nicht ganz das, was er sich vorgestellt hatte.
    Er schloss die Augen und dachte an Blumen. Der Strauß kam ihm in den Sinn, den er Mom zum letzten Geburtstag gekauft hatte. Gelbe und rote Farbflecken, doch sie wollten sich nicht zu festen Formen fügen. Rosen und Tulpen? Scherenschnitttulpen?
    Dann dachte er an Marielles Akelei, die seit neun Jahren in ihrem Holzkästchen ruhte, ohne zu welken, Kelch und

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