Purpurdämmern (German Edition)
Blütenblättchen aus einem Material wie Seide, das sich trotzdem lebendig anfasste. Er hatte sie so oft betrachtet, so viele Male berührt und seine Lippen und Nase hineingepresst, dass er sie im Schlaf hätte malen können. Er kannte jedes Detail. Jedes einzelne Blatt. Jedes Staubfädchen, jeden Wassertropfen.
Er schloss die Augen und sog sich voll mit dem Bild, er sammelte so viel Willen, wie er konnte, und schleuderte ihn über das Stoppelfeld. Die Luft um ihn erwärmte sich. Ein Glucksen stieg auf, wie Blasen, die auf einem Teich zerplatzen. Er verlagerte sein Gewicht und spürte, wie Wasser um seine Schuhe schwappte. Zögernd öffnete er die Lider. Und schnappte nach Luft.
»Wow!«, flüsterte er. »Cool!«
Er betrachtete seine Hände, unsicher, ob er nicht doch einer Halluzination aufsaß. Dann blickte er an seiner Jeans hinab, die sich von unten her allmählich mit Feuchtigkeit vollsog. Er stand bis über die Knöchel in einem flachen See. Um seine Stiefelsohlen zitterten Wellen in konzentrischen Kreisen. Und auf dem Wasser wiegten sich ungefähr vier Millionen perfekter Kopien der Blume, die Marielle im Depot verloren hatte.
Die Akeleiblüten schillerten in einem Spektrum von Gelb, Kobaltblau und Rostbraun und verströmten einen üppigen Duft. Jeder Windhauch ließ die Körbchen auf und niederwippen. Schilfstoppeln und Schlammhalden waren verschwunden, aufgezehrt beim Umformen des Gewebes.
»Wow!«, sagte er noch einmal.
Unfassbar. Erst Feuerbälle und explodierende Flammenkätzchen und nun das. Wie blöd, dass diese Magie-Sache in seiner Welt nicht funktionierte. Oder hatte nur noch niemand den richtigen Dreh herausgefunden? Schließlich hatte Marielle etliche Tore im Depot errichtet, und das war doch auch eine Art von Magie. Gott, es fühlte sich an, als läge der Übergang Ewigkeiten zurück. Dabei waren nur wenige Tage vergangen.
Ob sie ihn zu Hause vermissten? In der Schule sicher nicht, nach der Suspendierung. Nur Mom, die würde sich Sorgen machen, sie hatte ihn vielleicht schon bei der Polizei als vermisst gemeldet. Na ja, unwahrscheinlich, dass die Cops sich die Beine ausrissen. Die würden ihn am Ende noch verdächtigen, dass er Pat bei seinen dreckigen Geschäften geholfen und es mit der Angst zu tun gekriegt hatte, nachdem sie in der Schule aufgetaucht waren. Toll, ganz toll.
Auch wenn es ihm wirklich leidtat wegen Mom, hatte er gleich noch weniger Lust, in sein altes Leben zurückzukehren. Wenn jetzt ein mächtiger Zauberer vor ihn hintreten und ihn fragen würde, ob er die Zeit zurückdrehen und alles ungeschehen machen solle bis zu dem Punkt, an dem ihn Pats Crew im Depot eingekreist hatte, er wusste genau, dass er das Angebot abgelehnt hätte. Trotz der Spalthunde und der Drachenvögel und des verfluchten Waldes. Sich auch nur vorzustellen, dass Marielle und Santino verschwinden würden, als hätten sie nie existiert? Undenkbar. Santinos Angebot, ihn zum Former auszubilden, war das Beste, was ihm jemals widerfahren war. Okay, vielleicht das Zweitbeste, wenn er an Marielle dachte. Da draußen funkelten hunderttausend Welten. Ohne die Begegnung mit der Prinzessin und dem Magier hätte er weiterleben und sterben können, ohne auch nur von ihrer Existenz zu ahnen. Ausgerechnet er, der sich in schwarzen Stunden grämte, sechshundert Jahre zu spät geboren zu sein, in eine Welt hinein, in der die Zeit der großen Entdecker längst vergangen war.
Er seufzte und bückte sich nach seinen selbst erschaffenen Akeleien. Marielle würde es ihm sicher nicht übel nehmen, für eine so frohe Nachricht geweckt zu werden.
Er schöpfte einen Arm voller Blüten aus dem Wasser und watete bis zum Rand des Weidenwäldchens. Seine Schuhe waren innen wie außen patschnass. Die Socken quietschten und schmatzten bei jedem Schritt. Ob er mit Magie den Trocknungsprozess beschleunigen konnte? Vielleicht mit Feuer und Wind? Er verwarf den Gedanken so schnell, wie er gekommen war. Nein, er wollte nicht riskieren, das Kunstwerk versehentlich abzufackeln.
Sich einen Weg durch das Dickicht zu bahnen, erwies sich als Herausforderung. Das dichte Blätterdach ließ kaum Licht auf den Grund des Hains. Er hatte beide Hände voll mit den Blüten, also konnte er die Arme nicht ausstrecken, um Hindernisse zu ertasten oder beim Stolpern nach Halt zu greifen. Der Pfad war gepflastert mit Stolperfallen. Die pitschnassen Schuhe an seinen Füßen hatten das Gewicht und die Feinfühligkeit von Bleiklumpen angenommen. Alle drei
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