Purpurdämmern (German Edition)
Sie hatten wohl Angst, etwas Gefährliches könnte hindurchkommen und unsere Welt bedrohen. Also ließ mein Vater die beiden Bäume absägen, zwischen denen das Tor gespannt war, und ich habe nie mehr die Hügel mit der Flüster-Akelei gesehen.« Sie seufzte. »Einmal abgepflückt, wurzelt die Blume nicht mehr im Boden, und im Scharlachrot gibt es, soweit ich weiß, keinen Ort, an dem sie gedeiht. Ich kenne auch keinen Former, der sie replizieren könnte. Angeblich sind sie zu kompliziert und niemand versteht ihre Essenz. Aber du hast es geschafft.«
Ob es mit Newan so sein konnte, wenn sie verheiratet waren? Marielle streichelte mit dem Daumen die Akelei, die sich in ihre Finger schmiegte, die andere Hand vergrub sie in Kens feuchten Locken.
Die Nachttemperaturen waren in sommerliche Höhen gestiegen, seit der Riss am Himmel aufgetaucht war. Ihre Kleider waren durchweicht, aber sie fror nicht. Es fühlte sich angenehm an, mit Ken in diesem Pool aus Blüten zu liegen, die Zehen im Wasser zu rekeln und sich vom Wind streicheln zu lassen.
Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Newan, dieser steife und unansehnliche Avalâín-Laffe, dem bei ihrem ersten privaten Aufeinandertreffen im Dachgarten nichts Besseres einfiel, als einen Vortrag über Pflicht und Geringblütigkeit zu halten? Niemals könnte sie lachend mit ihm durch einen Blumenteich rollen. Oder sonst etwas tun, das Spaß machte.
»Ken«, bat sie, »erzähl mir etwas von dir.«
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen.«
»Was machst du in deiner Welt? Stammst du aus einer edlen Familie? Oder ist dein Vater ein Händler, oder ein Gelehrter? Ein Soldat?«
»Ich … was? Ich gehe zur Highschool.«
»Ja, aber was kommt danach? Wenn deine Lehrzeit beendet ist?«
Er holte tief Atem und stieß ihn wieder aus. »Keine Ahnung. Ich wollte eigentlich aufs College, aber sie haben mich wegen so einer blöden Geschichte von der Schule suspendiert, und eigentlich hätte ich für einen Test lernen müssen, aber jetzt bin ich ja hier.«
»Und nun hast du Angst, dass du den Test nicht bestehst?«
»Ich habe Angst, dass ich ihn verpasse.«
»Kannst du ihn nicht einfach später machen?«
»Das ist alles nicht so einfach«, sagte er düster.
»Na wenigstens hast du keinen Vater, der dich als Eigentum betrachtet, das er verschachern kann, an wen er will«, rutschte es ihr über die Lippen. Eine Sekunde später wollte sie sich dafür ohrfeigen, vor allem, weil Ken sich spürbar versteifte.
Dabei hatte sie nur versucht, die Schuldgefühle abzuschütteln, die ihr bei dem, was er gerade sagte, den Nacken hochkrochen. Denn ihr war glühend heiß bewusst, dass sie eine Mitschuld an seiner Misere traf.
»Meinen Vater würdest du nicht geschenkt haben wollen«, gab er zurück. Und dann: »Wie meinst du das, mit dem Verschachern?«
»Egal.«
»Nein, ist es nicht.« Er umfasste ihren Kopf mit beiden Händen und strich ihr übers Haar, die Schläfen hinunter, bis zum Kinn. »Ich will, dass du fröhlich bist, okay? Also wenn ich irgendetwas tun kann?«
»Kannst du nicht.« Sie hätte nicht davon anfangen sollen. Und gleichzeitig wollte sie, dass er es wusste, weil sie tief drinnen hoffte, dass er etwas Idiotisches zu ihrer Rettung vor dem teiggesichtigen Prinzen vorschlug. Wie zum Beispiel, Santino zu überrumpeln und gemeinsam zu flüchten, sobald sie aus Dämmer-Detroit entkommen waren.
»Wenn du mir nichts erzählst, dann werden wir das nie rausfinden, nicht wahr?«
»Ich soll den Thronerben der Tuatha Avalâín heiraten, damit wir miteinander ein Kind bekommen, dessen Blut ein Portal in die Ankerwelt von Níval öffnet. Dann gehen unsere mächtigsten Former hinüber und hindern unsere Welt daran, auseinanderzubrechen, so wie es hier gerade passiert.«
»Heiraten?«, echote Ken.
»Es war nicht meine Idee. Was glaubst du, warum ich fortgelaufen bin?«
»Und Santino will dich wieder zurückholen?«
»Mein Vater hat ihn geschickt, genau.«
»Dann ist er ein Arsch.«
»Wie man’s nimmt.« Frustriert stieß sie den Atem aus. »Er denkt, das wäre alles nicht schlimm, und ich würde mich schon an meinen Ehemann gewöhnen.«
»Aber du willst den Kerl nicht, oder?«
»Ich finde ihn schrecklich.«
Er stützte sich rücklings auf beide Ellenbogen und zog sie über sich, bis ihre Gesichter sich beinahe berührten. »Ich bin froh, dass ich dich gefunden habe.«
»Ich bin auch froh«, wisperte sie.
»Und ich will dich nicht gleich wieder verlieren, okay?«
»Ich ja
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