Purpurdämmern (German Edition)
Firmament überzog.
»Flüster-Akelei gedeiht nur im Rabenfächer«, sagte sie. »Diese Wüste, von der ich dir erzählt habe? In der mich Santino vor den Spalthunden gerettet hat?«
»Ja?«
»Als kleines Mädchen habe ich in den Gärten des Tíraphal ein altes Tor entdeckt, das in den Rabenfächer führt. Niemand wusste, dass es überhaupt existiert, nicht einmal Magister Féach.« Ihre Finger spielten mit seinen. »Es führte zu einer Klippe vor den Gestaden dieser Wüste, und die Küste ist bewachsen mit Flüster-Akelei. Stell dir vor, so weit das Auge reicht, die Hügel voller Blumen. Und weißt du, warum man sie Flüster-Akelei nennt? Sie wispern und singen und rufen nach dir. Sie sagten mir, wie sehr ihnen meine Locken gefielen und wie hübsch sie mich fänden, und sie wollten wissen, woher ich komme, weil sie so selten Gesellschaft hatten, die ihnen von fernen Ländern berichtete. Sie drängten sich gegen meine Beine und sagten mir, ich solle sie pflücken und mitnehmen, wenn ich nach Hause zurückkehrte. Also nahm ich so viele, wie ich konnte, und versteckte sie in meinem Zimmer. Diese Ziege Amalia fand sie natürlich trotzdem und regte sich auf, aber Magister Féach war so fasziniert von den Blüten, dass sie versprachen, meinen Zimmerarrest aufzuheben, wenn ich ihnen verriet, wo ich sie herhatte. Flüster-Akeleien sind sehr geschwätzig, und sie sind alle miteinander verbunden, deshalb teilen sie das gewaltigste Wissen über alle Welten. Je mehr von ihnen an einem Ort versammelt sind, desto mehr von diesem Wissen können sie abrufen.«
Sie hob eine Handvoll hellblauer und gelblicher Blüten aus dem Wasser und ließ sie Ken auf die Stirn fallen. Er schüttelte sich und warf ihr ein paar zurück, die auf ihrem Bauch und in der Mulde zwischen ihren Schlüsselbeinen liegen blieben.
»Sie sind gute Ratgeber«, fuhr sie fort. »Sogar eine einzige Blüte ist schon ein wandelndes Lexikon, sagt Magister Féach. Sie können dir helfen, mit Wesen zu sprechen, deren Sprache du nicht verstehst. Oder sie sagen dir, wo du hingehen musst, wenn du dich verirrt hast. Aber wirklich, je mehr von den Blüten du hast, desto besser.«
»Also hast du sie dir auf deine Tunika genäht«, konstatierte Ken. »Bei uns heißen diese Dinger übrigens Smartphones. Sagen dir, wo du hingehen musst, wenn du den Weg nicht kennst. Übersetzen dir Texte von Japanisch nach Englisch …«
Sie schlug mit einer Blume nach ihm. »Ich weiß, was ein Smartphone ist. Langweilige Plastikkästchen, die nur mit Elektrizität funktionieren und kaputtgehen, sobald sie ins Wasser fallen.«
»Man wirft sie ja auch nicht ins Wasser.«
»Und die nur das wissen, was vorher jemand hineingetippt hat.«
»Tja …«
»Und selbstständig denken können sie auch nicht.«
»Nein«, gab er zu.
»Siehst du«, sagte sie triumphierend. »Also, diese Tunika war sehr nützlich, auch wenn Nessa sie nicht leiden konnte. Sie war eifersüchtig.« Ein Kichern gluckste in ihrer Kehle. »Dann fingen die Blüten an abzufallen, eine nach der anderen, und ich habe es immer erst später gemerkt, wenn sie längst verschwunden waren. Ich bin zurückgekehrt in die Wüste im Rabenfächer, um mehr davon zu pflücken. Es war wie beim ersten Mal, sie lachten und freuten sich, mich zu sehen und baten mich, so viele wie möglich mitzunehmen. Dann sangen sie, aber plötzlich begannen sie panisch zu schreien, und dann sah ich diese Hunde …« Sie richtete sich ein wenig auf und verlagerte ihr Gewicht, sodass ihr Kopf auf seiner Brust zu liegen kam. Er streichelte ihr Haar. Ihre Nähe versetzte ihn in Hochstimmung. Es war wie eine Sättigung seiner Sinne nach der ultimativen Portion des leckersten Schoko-Käsekuchens, den er sich vorstellen konnte. Ihr Duft und ihre Wärme und ihre Freundschaft, ihre zärtliche Albernheit, das alles machte ihn trunken vor Glück.
»Die Hunde hätten mich in Stücke gerissen, aber dann tauchte Santino auf und erschlug sie. Er wurde von einer Art Reiterarmee verfolgt, und ich nahm ihn mit durchs Portal nach Níval. Santino war verwundet und mein Vater ließ ihn gesund pflegen. Später, als sich herausstellte, dass er ein großer Magier war, machte er ihn zu meinem Lehrer.« Sie hob einen Arm und tastete nach seinem Gesicht. »Das war ein Glück, so hatte ich immer eine Ausrede, nicht in der Obhut von Amalia bleiben zu müssen. Nach seiner Genesung verlangte Santino, dass das Portal sofort zerstört werden müsse, und Magister Féach stimmte ihm zu.
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