Purpurdämmern (German Edition)
Marielle.
Santinos Antwort ging im Zischen einer Blitzserie unter.
Ken fuhr auf den Freeway und wollte beschleunigen, als direkt vor ihm ein Loch von der Größe eines Kleinwagens auftauchte. Geistesgegenwärtig riss er das Lenkrad herum, schleuderte auf die zweite, dann die dritte Spur. Er konnte kaum glauben, dass er bei diesem Manöver keinen anderen Wagen rammte. Im gleichen Augenblick fiel ihm auf, dass es keine anderen Wagen gab. Der ganze gigantische Freeway lag in tiefster Dunkelheit. Nicht einmal die Lichter ihrer Verfolger waren zu sehen.
»Das ist nicht gut«, stöhnte Marielle. »Gib Gas! Sieh zu, dass wir die nächste Brücke erreichen.«
Ken verspürte Benommenheit. Er gehorchte, doch hatte plötzlich Schwierigkeiten, sich an sein Ziel zu erinnern. Warum war die Brücke so wichtig? Stimmen flüsterten in seinem Kopf. Sie kicherten und sangen, verströmten Fröhlichkeit. Darunter schmeckte er Wehmut, ein bittersüßes Gefühl von Heimweh und tiefe Geborgenheit.
Der Sturm berührte ihn nicht mehr. Auch nicht der eisige Luftstrom direkt in seinem Gesicht, der ihn daran erinnern sollte, dass die Heckscheibe zerbrochen war. Wann war das geschehen? Er würde das reparieren müssen, wenn er –
Wohin fuhr er überhaupt?
Er nahm den Fuß vom Gas, um sich zu orientieren.
»Fahr weiter!«, sickerte eine Stimme durch den wattigen Schleier. Er hörte sie, verstand jedoch nicht den Sinn.
Sie näherten sich der Brücke. Was war damit? Die Brücke war wichtig, er erinnerte sich … nur der Grund fiel ihm nicht ein. Er wollte anhalten und sie genauer betrachten. Die Steine berühren. Herausfinden, was so bedeutsam daran war.
Ein Blitz blendete ihn, ein irrsinniges Krachen. Das Licht schnitt durch die Brücke und schoss höher hinauf, über den ganzen Himmel. Die Nacht selbst schien zu zerreißen. Ein klaffender Riss wuchs empor, krümmte sich am Horizont und verströmte einen kränklichen gelben Schein.
»Jetzt«, rief Santino.
Sie rollten in die Höhle unter den Betonpfeilern, langsam zwar, doch sie rollten.
Die Luft kühlte sich ab.
Und Ken fuhr aus dem Nebel hoch, wie aus schwerem Schlaf. Er blinzelte ein paarmal, um die Schlieren vor den Augen zu vertreiben, sein Herz hämmerte wie wild. Tief drinnen spürte er einen Stich von Verlust. Was war geschehen?
Der Sturm tobte in voller Stärke, es hatte zu regnen begonnen. Schwere Tropfen klatschten gegen die Frontscheibe. Die Blitze rissen nicht ab, während am Horizont die unheimliche grüne Narbe waberte, deren Anblick ihm eine urtümliche Furcht einjagte.
Erst als eine rote Ampel vor ihnen auftauchte, begriff er, dass sie sich nicht länger auf dem Freeway befanden, sondern auf einer gewöhnlichen Straße in einem anderen Teil der Stadt. Wie war das nun wieder geschehen? Er war so erschöpft, dass er die Frage nicht über die Lippen bekam.
Ein Stück entfernt stand ein hohes Gebäude mit einem beleuchteten Marriott-Schriftzug an der Fassade. Ein Hotel.
»Sarrakhans Gnade«, stieß Santino hervor, »wir haben es geschafft.«
5
Marielle wollte die Badewanne am liebsten nie mehr verlassen. Sie ließ heißes Wasser nachlaufen, schob sich ein Handtuch in den Nacken und beobachtete, wie Tropfen von ihren Zehen herunterliefen. Das Gewitter war weitergezogen, doch der Regen prasselte wie aus Eimern auf die Fensterscheiben.
Sie schienen die einzigen Gäste im Marriott zu sein, so still, wie es war. Nach den Schrecken der letzten Stunden fühlte ihre Unterkunft sich überwältigend luxuriös an. Die Zimmer waren groß und komfortabel und die Bäder hatten Fußbodenheizung.
Das hätte ins Auge gehen können,
schnurrte Nessa. Die Purpurkatze lag zusammengerollt auf dem Toilettensitz und betrachtete sie aus ihren unergründlichen, perlmuttfarbenen Pupillen.
»Woher sollte ich ahnen, dass die Wegelagerer sich neuerdings auf unserer Seite des Freeways herumtreiben«, verteidigte sich Marielle.
Dämmer-Detroit liegt in den Dämmerschatten. Du wusstest, dass es gefährlich ist.
»Aber der Buchstabensammler –«
Der alte Mann hat ein paar tausend Jahre mehr Erfahrung als du. Er spürt ein Unheil, noch während es naht.
Die Purpurkatze fegte in einer unwilligen Geste mit dem Schwanz über den Deckel.
Glaubst du, er hat aus Spaß seine Festung versetzt? Das ist selbst für jemanden mit seinen Kräften nicht leicht. Er wusste, dass etwas passieren würde. Er hat sich vorbereitet. Aber du bist blind hineingelaufen.
»Wir. Nicht ich. Wir beide sind blind
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