Purpurdämmern (German Edition)
wahr war, wenn er nicht träumte … wenn er durch einen wahnwitzigen Zufall tatsächlich durch diese eine Tür gestolpert war, die Millionen anderer Menschen niemals fanden und die sein Leben veränderte …
Dann packte ihn Misstrauen. »Warum?«
Santino fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. Jetzt wo der Mantel die Arme nicht mehr bedeckte, bemerkte Ken den Reif aus roséfarbenem Metall, der den linken Unterarm des Magiers umschlang wie ein Klingenschutz. Aus dem verstärkten Medaillon über dem Handgelenk sprossen vier Ranken, von denen die oberste sich bis unter den Ellenbogen schmiegte. Linien und Spiralen aus winzigen gelben Kristallen funkelten im rötlichen Silber. Seine Rechte steckte in einem weichen schwarzen Lederhandschuh, der bis knapp an den Daumenansatz reichte.
Der Magier seufzte. »Weil ich es will.«
»Ja, aber was haben Sie davon?«
»Du besitzt ein außergewöhnlich großes Potenzial. Und ich könnte einen Lehrling brauchen.«
»Was ist mit Marielle?«
»Das ist was anderes.«
»So?«
»Ihr Vater bezahlt mich dafür, dass ich ihr beibringe, ihre Kräfte zu nutzen, ohne dass sie versehentlich den Palast abfackelt.« Santino verzog die Mundwinkel. »Mein Angebot ist nicht selbstlos. Ich erwarte, dass du mir bei bestimmten Aufgaben zur Hand gehst.«
»Muss ich dann bei Ihnen einziehen?« Die Vorstellung war aufregend und beängstigend zugleich. Er träumte seit Jahren davon, zu Hause ausziehen zu können, um Dad und Pat nicht länger ausgeliefert zu sein. Doch jetzt mit dieser Möglichkeit konfrontiert zu werden, erwischte ihn kalt.
Der Magier hob eine Augenbraue. »Denkst du, ich hause in einem Schuppen auf Hühnerfüßen, mitten in einem stinkenden Sumpf?«
»Äh, nein.« Aber er konnte doch nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Auch, wenn er ein paar Tage von der Schule suspendiert war, musste er immer noch den AP -Test bestehen, damit seine College-Träume sich nicht in Rauch auflösten. »Es kommt nur etwas plötzlich. Kann ich darüber schlafen?«
Santino stand auf und bückte sich nach seinem Mantel. Auf dem Weg zur Tür drehte er sich um. »Erste Lektion. Gelegenheiten sind launisch und wollen nicht warten. Wenn du eine siehst, pack sie beim Schopf, bevor sie unwiederbringlich verstreicht. Gute Nacht, mein Freund.«
6
Santino fand kaum Schlaf in der Nacht. Mit offenen Augen lag er auf seinem Bett, lauschte auf das schmerzhafte Pochen seiner Schulterwunde und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Es gelang ihm nicht. Sein Magen fühlte sich an wie mit Eisnadeln gespickt. Fast bereute er schon wieder, dem Jungen das Angebot gemacht zu haben. Oh, er hatte ihn nicht angelogen. Nicht direkt. Er hatte ihm nur das Ziel verschwiegen, das am Ende des Weges lag. Nun plagte es ihn, wie alles andere.
O Sarrakhan, er konnte sich ein weiches Herz nicht leisten. Was hatte es ihm eingebracht? Er dachte an Rhonda, und daran, dass seine Liebe es ihr leicht gemacht hatte, ihn zu verkaufen. Groll stieg in ihm auf und wich einer heftigen Trauer, als er versuchte, sich ihr Gesicht in Erinnerung zu rufen. Das führte zu nichts. Er musste aufhören zu grübeln und sich auf das konzentrieren, was vor ihm lag. Zuerst galt es, einen Weg aus dieser brüchigen Welt hinaus zu finden, zurück nach Tír na Mórí. Er würde Marielle in Eoghans Obhut zurückführen und sicherstellen, dass sie nicht sofort wieder das Weite suchte. Wenn die verdammte Heirat erst vollzogen war, kehrte hoffentlich Ruhe ein, und er fand Zeit, sich um den Jungen zu kümmern und Arrangements zu treffen. Doch das kam später. Viel später.
Bei Tagesanbruch verblasste der Regen zu einem feuchten, wattigen Nebel. Schwer dräuten die Wolken am Himmel. Dazwischen klaffte die Narbe, ein grünlich pulsierender Riss im Gewebe der Realität.
Bei ihrem hastigen Frühstück im Restaurant des Marriott waren sie die einzigen Gäste. Weder Ken noch Marielle sprachen viel. Schweigend saßen sie beieinander und verzehrten Pfannkuchen mit Ahornsirup. Santino beglich ihre Rechnung mit einem Bündel von Dollarscheinen, die er aus einer Zeitschrift auf seinem Zimmer gefertigt hatte. Die Illusion würde sich nach ein paar Stunden auflösen, doch so rüde, wie die Dame an der Rezeption ihn abfertigte, verspürte er kaum Schuldgefühle.
Als sie durch die Glastüren auf den Parkplatz hinaustraten, waberte die Narbe genau über ihren Köpfen.
»Was ist auf der anderen Seite?«, fragte Marielle.
Santino beobachtete Nessa, die den Pfützen
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