Purpurdämmern (German Edition)
sie zuvor zerkaut hatte. Ken wurde noch ein bisschen übler beim Gedanken daran, dass ihm Aan’aawenhs Speichel im Gesicht klebte.
»Heute Nacht werdet ihr gut schlafen. Beim ersten Morgenrot brecht ihr mit den Fischern auf. Sie bringen euch an den Rand von Belle Island. Von der Lagune aus führt ein Weg zur Mc-Arthur-Brücke, so wie es mein Bruder gesagt hat. Doch er hat euch verschwiegen, dass ihr die Brücke nicht passieren könnt, jedenfalls nicht ohne fremde Hilfe. Gespinstgeister klammern sich an den Pfeilern fest. Sie kriechen in euren Geist und ziehen euch hinab in die Tiefe.«
»Das ist sehr freundlich von dir«, presste Santino hervor, »dass du es mir sagst.«
»Und ich sage dir noch mehr.« Sie berührte das silbrige Ornament auf seinem anderen Arm, das Ken nur undeutlich sehen konnte. »Ah, ich beneide dich. Für die Orte, die du betreten hast. Für die Zeitalter, die du gesehen hast.«
»Nein.« Doch er wehrte sie nicht ab. »Es gibt Dinge, die sollte kein Mensch sehen müssen. Und Orte, die nicht betreten werden wollen. Aber natürlich ist man erst hinterher klüger.«
Sie lachte leise.
»Wie kommen wir also auf die andere Seite?«
»Es gibt dort eine Niederlassung der van Erlen-Handelsgesellschaft. Eine große, rot und weiß gestrichene Villa, ihr könnt sie nicht verfehlen. Der Mann, der dort lebt, heißt Rupertin. Sein Wagen ist mit einem mächtigen Schutzzauber überzogen. Die Gespinstgeister fliehen, wenn er sich nähert.« Aan’aawenh stand auf und wischte sich die Finger an ihrem Rock ab. »Jetzt bleibt still sitzen und ruht euch aus. Und wehe, ihr fasst die Wunden an. Im Moment brennt es, doch das geht vorbei. Dann kühlt es, und dann wird es jucken. Aber ich warne euch, wenn ich euch dabei erwische, wie ihr die Salbe herunterwischt, beginnen wir wieder von vorn.«
Sie musterte sie nacheinander mit einem strengen Blick, sodass Ken das Bedürfnis verspürte, aufzuspringen und zu salutieren.
Zwischen zwei Hütten glaubte er Marielle zu sehen, doch sicher war er sich nicht. Ein Blatt hing von seiner Augenbraue herunter, so dass er andauernd mit den Wimpern dagegenstieß. Es brannte fürchterlich. Ein Mann, kein Mädchen, wiederholte er im Stillen. Ein Mann, kein Mädchen.
Als es anfing zu jucken, war es endgültig vorbei mit seinen mannhaften Ambitionen.
»Das würde ich nicht tun«, sagte Santino neben ihm, als seine Hand sich hochstahl, um das elende Blatt von der Augenbraue zu reißen.
Ken tastete mit der Zungenspitze über die Lippen und versuchte herauszufinden, ob er es wagen konnte, den Mund zu öffnen. Die Lippen juckten am schlimmsten, und es hielt ihn nur die Panik vor einem Mund voll verschimmelter Wildschweinborsten davon ab, mit den Zähnen darauf herumzubeißen.
Der Magier hatte sich auf den Rücken sinken lassen und blickte hoch ins Blätterdach. Hinter der Wolkendecke schimmerte schwach und bleiern das Rund der Sonne. Aus dem Augenwinkel konnte Ken den Riss sehen, grünliche Nebel, pulsierendes Gift. Das Geheul der Hunde war verstummt.
»Erklären Sie mir noch mal, wie das mit den Parallelwelten funktioniert«, nuschelte er.
»Was?« Santino hob ein wenig den Kopf.
»Ich dachte, ich bin jetzt Ihr Lehrling. Also wie …«
»Jetzt lass endlich die Förmlichkeiten.«
»Erklären Sie … äh, ich meine, erklärst du’s mir?« Gern hätte er noch hinzugefügt, wie satt er es hatte, dass er der Einzige zu sein schien, der keine Ahnung von dieser merkwürdigen Schatten-Welt und ihren Gesetzen hatte, aber alle selbstverständlich annahmen, jedes Kind müsste es wissen. Und wie ungerecht das war, denn bis gestern hatte er ein ganz normales Leben geführt, und schließlich war es nicht seine Schuld, dass Marielle sein Versteck als Teleporter-Station benutzte. Doch jedes Wort benetzte seine Zunge mit dem widerlichen Geschmack, also verkniff er sich die Tirade.
»Also gut.« Santino ließ den Kopf wieder sinken. »Stell dir vor, diese Realität ist nur eine neben vielen anderen. Das Universum besteht aus tausend Spiegeln, in den unmöglichsten Winkeln zueinander verdreht. Diese Welt könnte der Traum eines Drachens sein, der auf dem Grund eines Ozeans schlummert. Oder eine Materialisierung kollektiver Träume aus dem Detroit im Kern, der Welt, aus der du kommst. Und vielleicht ist das, was du in deinen Träumen siehst, wiederum die Reflexion der Drachen-Sphäre auf einer Pfütze.«
»Hä?«
Der Magier seufzte. »Es ist kompliziert.«
»Nein, echt?«
»In der Akademie
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