Purpurdämmern (German Edition)
Lederjäckchen wies an den Schultern und entlang der Knopfleiste neue Stickereien aus türkisfarbenen und roten Perlen auf. Ihr Haar war zu zwei Zöpfen geflochten und mit Lederschnüren umwunden, in denen Holzstückchen, Federn und kleine Metallamulette klimperten.
Ken hatte den ganzen Nachmittag nach ihr Ausschau gehalten und nur widerwillig Santinos Behauptung hingenommen, dass alles in Ordnung war, solange die Purpurkatze sich faul und überfressen auf dem Hirschfell räkelte. Nessa hatte ihren Stolz über Bord geworfen, denn im Austausch für ein liebes Miauen klauten ihr die Ojibwe-Kinder mit Hingabe Fische aus den Vorräten ihrer Mütter.
Aan’aawenh zeigte ihnen die Schlafplätze des Dorfes, zwei Dutzend Unterstände mit Fellen und Wolldecken, die sich ringförmig um den Stamm eines gigantischen Maulbeerbaums kauerten. Der Wind spielte in den Federn und den Netzen von Hunderten von Traumfängern, die von den Ästen des Baums herabhingen. Es war ein gespenstischer Anblick.
»Wir wachen über unsere Träume«, sagte Aan’aawenh, die Kens Blick bemerkte. »Wir schützen unser Land. Diese Welt ist das, was wir wollen, was sie ist.«
Was hatte Santino über die Dämmerschatten gesagt? Ein unbedachter Atemzug genügte, um Gebirge zum Einsturz zu bringen? Da waren Vorsichtsmaßnahmen wohl angebracht.
»Die Menschen auf dem Festland dagegen sind gedankenlos«, fuhr sie fort. »Hast du die Scharlachranken gesehen?«
Er nickte.
»Auf den ersten Blick sehen sie hübsch aus. Aber sie sind eine Pest, die das Land allmählich verschlingt. Und alles nur weil jemand träumte, die hässlichen Mauern von Downtown unter Gärten zu verstecken. Doch er ließ sich ablenken beim Träumen, oder die Nuukhu korrumpierten seinen Traum. Die Blumen seiner Fantasie sprossen aus grauen Schlingen, die die Mauern erwürgten, statt sanft daran emporzuranken. Und weil jede Kreatur Nahrung braucht, und der Träumer nicht darüber nachdachte, wie sie sich auf Beton und Asphalt ernähren sollten, verwandelten die leuchtenden Blüten sich in Todesfallen für Vögel und kleine Tiere. Wir dagegen wissen, wie gefährlich Träume sein können.«
Die Ojibwe-Leute gingen früh zu Bett, und Ken, der lange Zeit nicht einschlafen konnte, lauschte Marielles Atemzügen. Obwohl sie neben ihm lag, hatte sie kaum ein Wort mit ihm gewechselt. Er dachte an den Moment von Vertrautheit am See, als sie ihm die Grenze der Sphäre erklärt hatte. Seine Fantasie schweifte weiter. Er fragte sich, wie ihr Palast aussah, und ob er sie öfter treffen würde, wenn er als Lehrling bei Santino unterschlüpfte. Bestimmt ergaben sich viele Gelegenheiten, Santino war schließlich ihr … ja was eigentlich? Aufpasser, Lehrer, Leibwächter? Jedenfalls einer, der viel Zeit mit ihr verbrachte. Und als Lehrling würde Ken ihn oft begleiten. Und die Prinzessin anhimmeln.
Wach auf, schalt er sich selbst. Die Prinzessin! Geht’s noch? Nur weil sie ihn aus Notwehr geküsst hatte, hieß das nicht, dass sie sich etwas aus ihm machte. Hatte sie ihm ja klar zu verstehen gegeben, am Abend im Hotel.
Nein, wahrscheinlicher war, dass er als blöder Alchemie-Praktikant den ganzen Tag Erlenmeyerkolben putzen oder die Treppe zum Kellerlabor fegen musste. Kein Mensch würde ihm Beachtung schenken. Santino würde wohl nicht ausgerechnet ihn mitschleppen, wenn auf der Einladung zum königlichen Ball stand: Eine Begleitung ist willkommen.
Himmel, ihm explodierte gleich das Hirn. Dämmerschatten, Scharlachrot, Rabenfächer. Tonlos formte er sie auf den Lippen. Dieses Modell, von dem Santino erzählt hatte, hätte er gerne gesehen.
Marielle neben ihm regte sich im Schlaf. Sie hatte ihre neuen Zöpfe nicht aufgemacht. Sicher weil sie mächtig stolz darauf war. Hätte er ihr sagen sollen, dass sie hübsch damit aussah? Aber so was fiel ihm immer fünf Stunden zu spät ein, wenn es schon peinlich war. Schon July hatte ihn ständig darauf hinweisen müssen, dass sie einen neuen Lippenstift oder frische Paris-Hilton-Strähnchen trug und Bewunderung angesagt war. Dass er nie von selbst darauf kam, war ihr ein ewiger Quell der Frustration gewesen. Obwohl er es, ehrlich gesagt, meist absichtlich übersehen hatte.
Am Rand des Schlafplatzes loderten Petroleumfackeln. Feuerschein brachte die Federn zum Leuchten und fing sich in den feinen Gespinsten im Innern der Rahmen. Die Traumfänger muteten nun nicht mehr gruselig an, sondern beruhigend, wie sie sich im Nachtwind drehten. Ab und an hallte das
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