Purpurschatten
eine böse Überraschung. Als er auf den Grabstein blickte, traute er seinen Augen nicht: Die Inschrift war ausgelöscht, der Stein glattpoliert, als wäre er nie mit einem Meißel in Berührung gekommen.
»Die Inschrift!« rief Brodka, daß es über den kleinen Friedhof hallte. »Wo ist die Inschrift auf dem Grabstein?«
Der Mönch verbarg beide Hände in den Ärmeln seiner Kutte. Er stand regungslos da und verbreitete klerikale Überheblichkeit. »Wovon reden Sie, Bruder in Christo?« sagte er und schaute Brodka mit breitem Siegerlächeln an.
Brodka fuhr zu dem Mönch herum. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, daß der Mann einen Schritt zurückwich. Das überhebliche Grinsen war wie weggewischt.
»In diesen Stein waren gestern noch die Buchstaben › C.B. ‹ und das Geburts- und Sterbedatum eingemeißelt, verdammt noch mal!«
Mit dem gequälten Blick eines Laokoon begann der Mönch: »Bruder in Christo …«
Weiter kam er nicht, denn Brodka fuhr dazwischen: »Nennen Sie mich nicht Bruder in Christo! Auf mich trifft weder das eine noch das andere zu! Sagen Sie mir lieber, was mit dem Stein geschehen ist!«
Wieder legte sich das hinterhältige Grinsen auf das Gesicht des Kapuziners. »Sie wollen ernsthaft behaupten, gestern hätte der Stein noch eine eingemeißelte Inschrift getragen? Wenn dem so wäre, wären wir Zeugen eines Wunders, das denen des heiligen Padre Pio gleichkommt. Aber ich muß Sie enttäuschen. Der Stein trug nie eine Inschrift. Noch nicht. Denn der Eigner des Grabes, ein hoher Würdenträger deutscher Abstammung, weilt noch unter den Lebenden.«
»Aber nicht nur ich habe die Inschrift mit eigenen Augen gesehen. Auch meine Frau hat …«
»Könnte es vielleicht sein«, unterbrach der Mönch mit hoher Stimme, »daß Sie sich in letzter Zeit allzu sehr mit dem Tod eines lieben Menschen beschäftigt haben – aus Gründen, die ich nicht kenne?«
Brodka nickte verblüfft.
»Sehen Sie.« Der Mönch nahm wieder seine vorherige Haltung ein; er schob seine Hände in die Ärmel seiner Kutte und richtete den Kopf leicht gen Himmel. »Leben wir nicht alle bisweilen im Wahn unserer Einbildung? Sind wir nicht alle schon einmal ein Opfer dieser Einbildung geworden? Wer kann von sich schon behaupten, ihm hätten seine Sinne noch nie einen Streich gespielt?«
Noch während der Kapuzinermönch im Tonfall eines Predigers redete, machte Brodka wütend kehrt und entfernte sich vom Grab. Er zweifelte keinen Augenblick daran, die Inschrift tatsächlich gesehen zu haben, und ging in Gedanken schon einen Schritt weiter: Er war sich nun ganz sicher, daß er einem Komplott auf der Spur war. Mochten die Zusammenhänge noch so widersinnig erscheinen – die Ereignisse der letzten Wochen und Monate hatten einen gemeinsamen Ursprung und ein gemeinsames Ziel.
Brodka hatte von Juliette mehr Mitgefühl erwartet, als er ihr von der neuen Entwicklung berichtete. Er hatte geglaubt, sie würde ihn zu trösten wissen, ihm Mut machen, ihn aufmuntern.
Doch Juliette reagierte auf eine Weise, wie er es am wenigsten erwartet hatte: Nachdem er vom Verschwinden der Inschrift berichtet hatte, lachte sie plötzlich lauthals und wiederholte ein ums andere Mal prustend: »Ein Wunder, ein Wunder, ein Wunder!«
So hatte Brodka sie noch nie erlebt. Er schüttelte sie, doch ohne jede Wirkung. Erst als er die Hand hob, als wollte er ihr eine Ohrfeige verpassen, verstummte sie abrupt und schaute ihn an. Lag Verwunderung in ihren Augen? Zorn? Enttäuschung? Er konnte ihren Blick nicht deuten.
»Entschuldige bitte«, sagte er leise und wagte es nicht, ihren Blick zu erwidern. »Ich … es tut mir leid.«
»Schon gut«, erwiderte sie. »Ich weiß selbst nicht, was in mich gefahren ist. Vielleicht reagieren manche Menschen so, wenn Verzweiflung und Absurdität zusammentreffen.«
»Mag sein«, sagte Brodka sanft.
»Da ist noch etwas«, begann sie zögernd. »Ich habe dir etwas verschwiegen. Ich … ich wollte dich nur nicht noch mehr beunruhigen.«
Brodka hatte sich auf die Bettkante gesetzt und den Kopf in beide Hände gestützt. Nun schaute er auf.
Juliette ging zum Fenster und ließ den Blick über die Dächer der Häuser schweifen, welche die Piazza Mazzini einrahmten. »Ich habe dir doch schon mal von Norbert erzählt, dem neunfingrigen Barpianisten …« Sie stockte.
»Ja. Was ist mit ihm?«
»Ich kenne ihn seit vielen Jahren und habe ihn immer für einen ehrlichen, anständigen Kerl gehalten. Wir haben uns öfters
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