Purpurschatten
der Pfleger mit beiden Händen am Fußteil klebte, am ganzen Körper zitternd. Dann sank er in sich zusammen.
Brodka stürzte zum Nachttisch und riß das Kabel aus der Steckdose. Jetzt mußte alles blitzschnell gehen. Er zog dem bewußtlosen Pfleger den Kittel aus, legte seine Handgelenke über Kreuz, schlang das Kabel darum und verknotete die Enden am Bettgestell. Dann riß er Jo den Universalschlüssel vom Hosenbund und sperrte den Schrank auf, in dem er seine Kleidung vorfand. Hastig zog er sich an, streifte Jos Pflegerkittel über, ging zur Tür und lauschte.
Draußen näherten sich Schritte, entfernten sich wieder. Gott sei Dank. Als auf dem Gang völlige Ruhe herrschte, begann Jo leise zu stöhnen.
Höchste Zeit, sagte sich Brodka. Er steckte den Schlüssel in den Klinkenknopf, öffnete und schob vorsichtig den Kopf aus der Tür.
In dem langen Gang hielt sich niemand auf. Brodka trat heraus und versperrte die Tür. Es kostete ihn unendliche Mühe, mit gemäßigten Schritten zum rechter Hand gelegenen Ausgang zu gehen. Auch diese Tür öffnete er mit dem Universalschlüssel, verschloß sie hinter sich und fand sich auf der Treppe wieder, die nach unten führte, am Besucherzimmer vorbei.
Auf halbem Weg – Brodka hatte das Besucherzimmer bereits hinter sich gelassen – kam ihm eine Schwester entgegen. Brodka schlug das Herz bis zum Hals, doch er zwang sich, ruhig weiter zu gehen.
»Grüß Gott«, sagte er im Vorbeigehen freundlich. Die Nonne, die er noch nie gesehen hatte, erwiderte seinen Gruß.
Ungehindert erreichte Brodka das Ende der Treppe, mußte aber feststellen, daß er das Erdgeschoß verpaßt hatte; denn als er am Ende des Ganges eine eiserne Tür aufschloß, fand er sich plötzlich im Heizungskeller. Er wollte schon umkehren, als er hinter den fauchenden, dröhnenden Heizkesseln eine eiserne Treppe entdeckte, die steil nach oben zu einem schmalen Durchlaß führte.
Brodka zog den Pflegerkittel aus, zwängte sich zwischen den Heizkesseln hindurch und rannte die eiserne Treppe hinauf. Oben angelangt, fluchte er leise. Wieder eine gottverdammte Tür. Brodka bezweifelte, daß sein Schlüssel auch hier seinen Dienst tun würde, doch wider Erwarten paßte er.
Vorsichtig öffnete Brodka die Tür. Vor ihm lag ein gepflasterter Hinterhof, auf dem zahlreiche Lieferwagen parkten. Obwohl es noch früh am Morgen war, herrschten hier Lärm und reges Treiben.
Er schaute sich rasch um und entdeckte die Hofeinfahrt, die normalerweise von einem Gatter verschlossen war. Doch jetzt, mitten im Lieferverkehr, stand es offen. Brodka überlegte nicht lange. Mit gespielter Gelassenheit – dabei wagte er kaum zu atmen – schritt er durch das Tor.
Er war frei.
K APITEL 6
München, Hauptbahnhof. Aus den Lautsprechern dröhnte – schwer verständlich wie auf allen Bahnhöfen – eine weibliche Stimme und verkündete: »Auf Gleis 12 fährt ein der Euro City 64 aus Wien, planmäßige Ankunft 13 Uhr 36.«
Juliette hatte Angst, der Zug könnte einfahren, fünfhundert Menschen oder mehr kämen über den Bahnsteig – und Brodka wäre nicht darunter. In ihre Verzweiflung war gestern Brodkas Anruf geplatzt, er sei aus der geschlossenen Anstalt geflohen; zusammen mit Titus treffe er gegen halb zwei mit dem Zug im Münchner Hauptbahnhof ein.
Nach ihrem Besuch in der Klinik fiel es Juliette schwer zu glauben, daß Brodka die Flucht geglückt sein sollte. Am Telefon hatte er ihr die näheren Umstände verschwiegen, doch seine Stimme klang fest und selbstsicher, ganz anders als damals im Besucherzimmer der Anstalt.
Ich brauche Brodka, dachte Juliette, während sie unruhig auf und ab ging. Ich brauche ihn mehr als je zuvor. Allein der Gedanke an seine Rückkehr gab ihr Auftrieb und neue Zuversicht.
Als der Zug einfuhr, kam es ihr unendlich langsam vor. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Räder quietschend zum Stillstand kamen. Als Kind hatte Juliette in ähnlichen Situationen – wenn es darum ging, daß sich ein inständiger Wunsch erfüllte – stets gebetet: »Lieber Gott, mach …« Aber seit sie schon vor langer Zeit zu der Einsicht gelangt war, daß der liebe Gott ziemlich schwerhörig war, verzichtete sie darauf.
Juliette stellte sich an das Ende des Bahnsteigs, wo sie eine gute Sicht hatte. Sie brauchte nicht lange zu warten; sie erkannte Brodka schon von weitem in der Menge. Ungestüm rannte sie ihm entgegen, fiel ihm um den Hals, küßte ihn und drückte ihn an sich. Menschen schoben sich an
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