Pusteblume
das nicht mehr aus.« Die restlichen Sekunden auf dem Band weinte sie. Er rief nie zurück.
Als Lorcan am Dienstagmorgen am Bahnhof Angel in die U-Bahn stieg, hatte er das Gefühl, daß alle wissen müßten, wie wichtig diese Fahrt für ihn war. Er war sich sicher, daß er eine bedeutungsschwere Atmosphäre um sich verbreitete. Was für ein Anblick, dachte er mitleidig. Jetzt fahren sie in ihre traurigen Büros. In gewisser Hinsicht beneide ich sie auch. Wäre es nicht schön, keine Sorgen zu haben? Die Bürde, ein verkanntes Genie zu sein, lastete schwer auf ihm. Aber das war nicht zu ändern.
Als er ausstieg, traf er mit sich selbst eine Abmachung. Wenn er es schaffte, auf dem Weg vom Bahnhof zum King’s Head nicht auf eine Fuge zwischen den Pflastersteinen zu treten, würde er die Rolle bekommen. Und wenn er die Rolle nicht bekam? »Dann falle ich tot um«, flüsterte er ergriffen. »Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als tot umzufallen.«
Lorcan war der letzte auf der Liste der vier Bewerber, und als er den anderen beim Vorsprechen zuhörte, verging er fast vor Unsicherheit, verzehrte sich vor Neid und Angst, weil die anderen alle jünger, größer, durchtrainierter und reicher zu sein schienen, mit einer besseren Ausbildung, mehr Erfahrung und besseren Verbindungen als er. Aber wie immer verbarg Lorcan sein Gefühl der Unzulänglichkeit unter einer arroganten Oberfläche.
Und dann war er an der Reihe. Er sprach Hamlets Monolog, stand allein auf der Bühne, im Scheinwerferlicht, und seine lange, magere Gestalt wand sich vor Unentschlossenheit, während Verwirrung sein attraktives Gesicht verzerrte. »Er spielt den gequälten Zauderer sehr gut«, murmelte Heidi, die Regieassistentin.
»Das stimmt«, sagte der Regisseur.
Als Lorcan geendet hatte, mußte er die Kiefer fest geschlossen halten, damit er nicht bettelte: »Sagt mir bitte, daß ich gut war! Bitte nehmt mich in die Produktion.«
Er konnte natürlich nicht wissen, daß der Wunschkandidat für die Zweitbesetzung im letzten Moment die Hauptrolle in
Der Eismann kommt
beim Almeida-Theater angenommen hatte. Und als Heidi ihm erklärte, daß er die Rolle bekommen habe, folgte auf einen Moment der freudigen Überraschung das Gefühl, daß ihm nichts Geringeres zustand. Natürlich haben sie mich genommen. Warum auch nicht? Der Schrecken der letzten Stunden schmolz dahin wie Schnee in der Sonne.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Heidi und strahlte ihn an.
Lorcan zuckte die Achseln und deutete an, daß nichts leichter war, als die Rolle zu bekommen.
»Ich weiß, daß es die Zweitbesetzung für Frasier Tippetts Rolle ist, aber immerhin«, sagte sie.
»Ja, na ja, vielleicht hat Frasier Tippett einen schrecklichen Unfall. Man weiß nie, und es gibt immer noch Hoffnung.« Lorcan zeigte Heidi sein schönstes Lächeln und schlenderte davon.
Heidis Lächeln schwankte, zitterte und verschwand. Frasier Tippett war ihr Geliebter.
Am nächsten Tag sollte Lorcan einen ButterWerbespot fürs Fernsehen drehen. Er hatte Wochen zuvor schon vorgesprochen und war unaussprechlich dankbar gewesen, als er die Zusage bekam. Fernseh-Werbespots waren ungemein lukrativ. Was man da verdiente, konnte einen ein Jahr über Wasser halten. Aber da er jetzt wieder in seiner eigentlichen Welt Fuß gefaßt hatte – und bald im Rampenlicht auf der Bühne stehen würde –, hatte sein übergroßes Ego wieder die Oberhand gewonnen. Warum sollte er dankbar für einen ButterWerbespot sein? Sie hatten Glück, daß er da mitmachte, und das würde er ihnen zu spüren geben.
Zur festgesetzten Stunde – beziehungsweise vierzig Minuten später – erschien er in einem eiskalten, fensterlosen ehemaligen Lagerhaus in Chalk Farm, wo gedreht werden sollte. Er wurde von einem Pulk hysterischer Menschen in Empfang genommen:Produzenten,Regisseure,Casting-Agenten,Best-Boys, Werbespezialisten, Vertreter der Butterindustrie, Maskenbildnerinnen, Friseusen und zahllose andere Menschen, die an jedem Drehtag Tee trinkend herumstanden, mit Schlüsseln und Piepsern, die an ihren Gürteln baumelten.
All das habe ich unter Kontrolle,
dachte Lorcan und genoß das Gefühl seiner Unbesiegbarkeit.
Ich gehöre wieder dazu. Großartig.
»Wo waren Sie? Wir haben versucht, Sie auf Ihrem Mobiltelefon zu erreichen, aber Ihr Agent hat gesagt, Sie haben keins!« keuchte Ffyon, der Produzent. »Das muß doch wohl ein Irrtum sein.«
»Es ist kein Irrtum«, entgegnete Lorcan, »ich habe tatsächlich keins.«
»Warum
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