Pyramiden
wenige Zentimeter hohe Pyramide. Wind kam auf und strich den Sand beiseite. Doch es war gar kein Wind: Die Pyramide wuchs allmählich, streckte ihre glänzenden Mauern dem Himmel entgegen …
Sie wurde größer, immer größer, so groß, daß sich die ganze Welt auf einen Fleck in ihrer Mitte reduzierte.
Und im Zentrum der Pyramide geschah etwas Sonderbares.
Und dann wurde die Pyramide wieder kleiner, nahm die Welt mit sich, und verschwand …
Nun, wenn man ein Pharao ist, muß man mit besonders seltsamen Träumen rechnen.
Ein neuer Tag dämmerte, und das war natürlich dem Pharao zu verdanken, der noch immer im Bett lag und seine zusammengerollte Kleidung als Kissen benutzte. Im steinernen Labyrinth des Palastes erwachten die ersten Bediensteten.
Das Boot des Hohenpriesters glitt über den Fluß und stieß mit einem leisen Pochen ans hölzerne Kai. Ein anderer Dios ging an Land, eilte in Richtung Palast und erreichte die Treppe. Er nahm gleich drei Stufen auf einmal und rieb sich die Hände, als er daran dachte, daß der Tag gerade erst begonnen hatte. Viele leere Stunden, die er mit nützlicher Arbeit und Ritualen füllen konnte. Ich lebe nur, um zu dienen …
Der Oberste Bildhauer und Hersteller von Mumien-Sarkophagen klappte seinen Meßstab zusammen.
»Sie haben wirklich gute Arbeit geleistet, Meister Dil«, sagte er.
Dil nickte. Unter Handwerkern konnte man auf falsche Bescheidenheit verzichten.
Der Bildhauer gab ihm einen Stoß. »Wir sind ein tolles Team, was?« meinte er. »Sie stopfen den Pharao aus, und ich stopfe ihn rein.«
Dil nickte erneut, wenn auch etwas langsamer. Der Bildhauer blickte auf das wächserne Oval in seinen Händen herab.
»Leider kann ich mich nicht dazu durchringen, Gefallen an der Totenmaske zu finden«, sagte er.
Gern sah erschrocken von einer verstorbenen Katze der Königin auf. Sein Meister hatte ihm erlaubt, sie ganz allein zu präparieren.
»Ich habe mir große Mühe gegeben«, erwiderte er betroffen.
»Vielleicht liegt’s genau daran«, sagte der Bildhauer.
»Ich weiß, was Sie meinen.« Dil seufzte niedergeschlagen. »Es ist die Nase, nicht wahr?«
»Ich dachte eher an das Kinn.«
»Und das Kinn.«
»Ja.«
»Ja.«
Schweigend betrachteten sie das wächserne Gesicht des Pharaos. Teppicymon XXVII. betrachtete es ebenfalls.
»Mit meinem Kinn ist alles in Ordnung.«
»Vielleicht sollten wir einen Bart hinzufügen«, schlug Dil vor. »Dann wär’s nicht mehr ganz so schlimm.«
»Und die Nase?«
»Wir verkürzen sie um einen Zentimeter. Und auch die Jochbeine müßten etwas nachgearbeitet werden.«
»Ja.«
»Ja.«
Gern blinzelte entsetzt. »Ihr sprecht vom Gesicht des verstorbenen Pharaos«, sagte er. »Es darf nicht verändert werden. Man würde es sicher bemerken.« Er zögerte. »Oder nicht?«
Die beiden Handwerker – die beiden Künstler – wechselten einen kurzen Blick.
»Man wird es bestimmt bemerken, Gern«, sagte Dil geduldig. »Aber schweigend. Ohne irgendwelche Worte darüber zu verlieren. Die Leute erwarten von uns, daß wir gewisse Dinge, äh, verbessern.«
Der Oberste Bildhauer lächelte fröhlich. »Du glaubst doch wohl nicht, daß jemand an uns herantritt und sagt: ›Das ist völlig verkehrt. In Wirklichkeit sah er aus wie ein kurzsichtiges Huhn.‹«
»Vielen Dank für das Kompliment. Ja, herzlichen Dank. Sehr nett.« Der Pharao wandte sich ab und nahm neben dem Katzenkadaver Platz. Offenbar hatten lebende Menschen nur dann Respekt vor den Toten, wenn sie glaubten, daß die Toten zuhörten.
»Nun …«, antwortete der Lehrling unsicher. »Ich muß zugeben, er hält kaum einen Vergleich mit den Fresken stand.«
»Genau darum geht’s, nicht wahr?« fragte Dil bedeutungsvoll.
Gerns großes, ehrliches und pickliges Gesicht veränderte sich langsam, wie eine Kraterlandschaft, über die einige Wolken hinwegzogen. Er ahnte allmählich, daß man ihn in ein wichtiges Geheimnis seiner Zunft einweihte.
»Soll das etwa heißen, auch die Maler haben einige, äh, Verbesserungen vorgenommen?«
Dil musterte ihn und runzelte die Stirn.
»Über solche Dinge sprechen wir nicht«, sagte er.
Gern versuchte, seine Mimik unter Kontrolle zu bekommen und würdevollen Ernst zum Ausdruck zu bringen.
»Oh«, murmelte er. »Ja. Ich verstehe, Meister.«
Der Bildhauer klopfte ihm auf den Rücken.
»Du bist ein kluger Bursche, Gern«, behauptete er. »Du denkst mit. Nun, es ist schon schlimm genug, im Leben häßlich zu sein. Stell dir mal vor,
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