Qiu Xiaolong
vernachlässigen.«
Anschließend saß Zhang noch eine Weile grübelnd in seinem Büro.
Wieder daheim, war er erschöpft und hatte großen Hunger. Außer einem Fertiggericht Nudeln mit Lauchzwiebeln am Morgen hatte er bisher nichts zu sich genommen. Im Kühlschrank gab es nur einen halben Laib trockenes Brot. Er nahm es heraus und braute sich eine Tasse Kaffee, aus drei Löffeln Pulver. Das war sein Abendessen: pappig schmeckendes Brot und Kaffee, der so stark war, daß er sich damit die Haare hätte färben können. Dann holte er die Akte des Falls hervor, obschon er sie bereits mehrfach durchgelesen hatte. Nach einem vergeblichen Versuch, etwas Neues zu finden, griff er nach den Zeitschriften, die er am Morgen im Club ausgeliehen hatte. Zu seinem Erstaunen fand er in der Zeitschrift Qinghai-See ein Gedicht von Oberinspektor Chen. Es trug die Überschrift »Nächtliches Gespräch«:
Sahniger Kaffee, kalt;
Zuckerwürfel wie Holzbauklötzchen
Der verstümmelte Kuchen
Krümelnd, die letzte Butterblume
Erinnert an die natürliche Freiheit,
Das Messer daneben, wie ein Hinweis –
In der wechselnden Farbe von Katzenaugen
Kann mancher, so heißt’s, die Uhrzeit lesen –
Doch du kannst es nicht. Zweifel, uralter
Bodensatz aus einer Flasche »Große Alauer«
Blieb im perlenden Wein zurück.
Zhang konnte sich darauf keinen Reim machen. Er wußte nur, daß einige Bilder irgendwie beunruhigend waren. Also übersprang er gegen Ende des Gedichts ein paar Strophen und las die letzte:
Nichts scheint zufälliger
Als die Welt in Worten.
In deinen Händen wandelt sich
Die Rubrik, rein durch Zufall, und das Ergebnis
Heißt dann Geschichte, wie alle Ergebnisse …
Durch das Fenster sehen wir keinen Stern,
Der Platz der Verstandes verwaist, sämtliche Fähnlein
Verschwunden. Nur eine Lumpensammlerin der Zeit
Schlurft vorbei und sammelt eifrig die Bruchstücke
Der Minuten in ihrem Korb.
Die Wörter »Platz des Verstandes« erregten plötzlich Zhangs Aufmerksamkeit. War das möglicherweise eine Anspielung auf den Platz des Himmlischen Friedens? »Verwaist« in einer Sommernacht 1989, kein »Fähnlein« mehr dort? Wenn das stimmte, war das Gedicht politisch inkorrekt. Und auch die Erwähnung von »Geschichte«. Der Vorsitzende Mao hatte gesagt, daß die Menschen und nur die Menschen allein Geschichte machen. Wie kam Chen dazu, Geschichte als das Ergebnis einer Rubrik zu bezeichnen?
Zhang war sich seiner Interpretation nicht sicher. Also las er noch einmal den Anfang des Gedichts, doch schon bald verschwamm alles vor seinen Augen. Es blieb nichts zu tun. So duschte er und ging dann zu Bett. Unter der Dusche dachte er immer noch, daß Chen zu weit gegangen sei.
Zhang beschloß, seine Zweifel durch Schlaf zu vertreiben, aber sie schwirrten ihm weiter im Kopf herum. Gegen halb zwölf stand er auf, machte Licht und setzte seine Lesebrille auf.
Es war ganz still in der Wohnung. Seine Frau war zu Beginn der Kulturrevolution gestorben. Zehn Jahre, mehr als zehn Jahre war das her. Dann läutete das Telefon auf dem Nachttisch.
Es war ein Ferngespräch von seiner Tochter in Anhui: »Vater, ich rufe aus dem Kreiskrankenhaus an. Kangkang ist krank, er hat vierzig Grad Fieber. Die Ärzte sagen, er hat eine Lungenentzündung. Guolian ist entlassen worden. Wir haben kein Geld mehr.«
»Wieviel?«
»Wir brauchen tausend Yuan als Anzahlung, sonst behandeln sie ihn nicht.«
»Gib ihnen, was ihr habt. Sag den Ärzten, daß sie bezahlt werden. Ich schicke dir das Geld morgen früh sofort per Eilanweisung. Für meinen zweiten Enkel tue ich alles.«
»Danke, Vater. Tut mir leid, dich damit behelligen zu müssen.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich bin schuld daran – all diese Jahre.«
Zhang glaubte das. Er fühlte sich verantwortlich für alles, was seiner Tochter widerfuhr. Oft erinnerte er sich nachts mit unerträglicher Bitterkeit an die weit zurückliegenden Augenblicke, wie er sie damals zu Beginn der sechziger Jahre an der Hand zur Schule gebracht hatte. Als stolzes Kind einer revolutionstreuen Kaderfamilie und gute Schülerin hatte sie im sozialistischen China rosige Zukunftsaussichten. 1966 wurde jedoch mit einem Schlag alles anders. Die Kulturrevolution machte aus ihm einen Konterrevolutionär und aus seiner Tochter das Kind einer Familie, die den Weg des schwarzen Kapitalismus verfolgte, eine Zielscheibe der revolutionären Kritik der Roten Garden. Als politisch
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