Qiu Xiaolong
geächtete, reformierbare gebildete Jugendliche wurde sie in eine arme Landregion der Provinz Anhui verschickt, wo sie für ganze zehn Fen pro Tag schuftete. Nie hätte Zhang für möglich gehalten, was seiner Tochter dort widerfuhr. Andere junge Menschen im Arbeitseinsatz erhielten Geld von ihren Familien in Shanghai oder kamen zu den Familienfeiern am Frühlingsfest, aber sie konnte das nicht. Sie hatte keine Familie; ihr Vater war immer noch im Gefängnis. Als er Mitte der siebziger Jahre endlich freikam und rehabilitiert wurde, erkannte er sein Kind kaum wieder: eine gelblich-blasse Frau mit tiefen Falten im Gesicht, in einem einfachen schwarzen Gewand und mit einem Baby auf dem Rücken. Sie hatte einen Bergmann geheiratet – hauptsächlich wohl, um zu überleben. In jenen Jahren mochte der Monatslohn eines Bergmanns von sechzig Yuan enorm ins Gewicht fallen. Bald war sie Mutter von drei Kindern. Ende der siebziger Jahre verpaßte sie die Chance, nach Shanghai zurückzukehren, weil die Partei ehemaligen landverschickten Jugendlichen wie ihr verbot, Mann und Kinder mit in die Stadt zu bringen.
Manchmal glaubte er, daß sie ihn quälte, indem sie sich selbst quälte.
»Vater, du solltest dir keine Vorwürfe machen.«
»Was kann ich anderes tun? Ich habe nicht gut auf dich aufgepaßt. Jetzt bin ich zu alt.«
»Du klingst nicht gut. Hast du zuviel gearbeitet?«
»Nein, es ist der letzte Fall vor meiner Pensionierung.«
»Dann paß auf dich auf.«
»Das werde ich tun.«
»Wenn ich das nächste Mal nach Shanghai komme, bring ich dir ein paar Luhua-Hühner mit.«
»Mach dir keine Mühe.«
»Die Leute hier sagen, daß Luhua-Hühner gut für die Gesundheit eines alten Mannes sind. Ich ziehe gerade sechs Stück auf. Echte Luhua.«
Jetzt klang sie wie die arme Mittelbäuerin, die sie in Wahrheit war.
Ein Klick. Er hörte, wie sie den Hörer auflegte. Dann das leere Schweigen. Sie war Tausende von Kilometern entfernt. So viele Jahre waren vergangen, seitdem er mit seiner Tochter in Gedanken redete.
Langsam ging er zum Schreibtisch zurück. Die Akte lag immer noch dort; er wandte sich den Notizen zu, die er während der Sitzung gemacht hatte, und ging alles noch einmal durch. Einen Augenblick lang fühlte er sich Wu Bing viel näher, der bewußtlos im Krankenbett lag. Genosse Wu Bing hatte sein ganzes Leben lang für die Sache des Kommunismus gekämpft. Und nun? Nun vegetierte er vor sich hin und konnte nichts tun, um seinen Sohn davor zu schützen, als Verdächtiger ins Visier genommen zu werden. Schnell versuchte Zhang sich einzureden, daß er nicht deswegen gegen die Richtung war, die die Ermittlungen nahmen, weil er sich Wu Bing verbunden fühlte. Es hatte auch nichts damit zu tun, daß junge Leute hochkamen, naßforsche Unternehmer tonnenweise Geld scheffelten oder Oberinspektor Chen seine Autorität in Frage stellte. Die Ermittlungen auf Vorurteile gegenüber den Kindern hoher Kader aufzubauen, war Teil einer Tendenz in der Gesellschaft, die korrekte Führung durch die Partei in Frage zu stellen.
Aber wenn Wu Xiaoming den Mord nun doch begangen hatte? Wer immer das Verbrechen begangen hatte, mußte natürlich bestraft werden. Aber wäre das denn im Interesse der Partei?
Zhang vermochte keine Antwort zu finden.
In den frühen Jahren freilich, als er in die Partei eintrat, war es für ihn nie schwer gewesen, eine Antwort zu finden. 1944 ging er, ein vielversprechender Fachhochschulstudent, nach Yan’an, ohne sein Studium zu beenden, und erfuhr, was es heißt, eine solche Reise auf dem Rücken eines Esels zu machen. Das Leben in Yan’an war hart. Er teile sich irgendein Loch mit vier anderen Genossen, arbeitete zwölf Stunden am Tag und las bei Kerzenschein. Nach drei Monaten konnte er sein Spiegelbild im Fluß kaum wiedererkennen. Hager, unrasiert, unterernährt – von dem jungen Großstadtintellektuellen war kaum eine Spur übriggeblieben. Aber er glaubte, daß sein verändertes Aussehen eine zufriedenstellende Antwort war. Er wußte, daß er das Richtige für das Land, das Volk, für die Partei und auch für sich selbst tat. Das waren die glücklichen Jahre.
Auch in den folgenden Jahren hatte Kommissar Zhang nie an seiner Antwort gezweifelt, obwohl seine Karriere nicht eben geradlinig verlaufen war.
Aber jetzt…
Schließlich traf er einen Entschluß.
Er würde einen Bericht an Jiang Zhong, einen alten Weggefährten, schreiben, der beim Amt für Innere Sicherheit noch immer eine einflußreiche
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