Qiu Xiaolong
sie nur ein weiteres Objekt für sein Fotografenauge, das er mit seiner Kamera beobachtete, fotografierte und anschließend ins Album klebte. Ich komme auf sie, weil sie möglicherweise etwas über Wu und Guan weiß. Guan könnte das Mädchen nach ihr gewesen sein.«
»Ja, vielleicht ist das eine wichtige Spur, Genossin Jiang. Ich werde das auf jeden Fall überprüfen. Aber was kann ich für Sie tun?«
»Wenn möglich, versuchen Sie bitte, ihren Namen in keinster Weise publik zu machen. Das ist der Gefallen, um den ich Sie bitte. Ich bin kein unbeschriebenes Blatt, eine Schlagzeile mehr oder weniger in der Boulevardpresse macht mir nichts aus. Aber bei ihr ist das anders. Ich habe gehört, daß sie bald heiratet.«
»Ich verstehe«, sagte Yu. »Ich werde mein Bestes tun. Haben Sie ihre Adresse.’«
»Sie steht im Telefonbuch«, sagte sie und nahm eines zur Hand. »Ich sehe für Sie nach.«
Er bekam den Namen, die Anschrift und die Telefonnummer.
»Danke. Ich werde Oberinspektor Chen berichten, wie sehr Sie uns geholfen haben.«
»Grüßen Sie ihn von mir.«
»Das werde ich tun. Also, auf Wiedersehen.«
Yu beschloß, Ning Jing sofort aufzusuchen.
Nings Wohnung befand sich in der Xikang Lu, in der Nähe des Gate to Joy, einem Nachtclub, der rehabilitiert worden war und wieder geöffnet hatte.
Die Tür, an der Yu klingelte, wurde von einer jungen Frau geöffnet. »Sie wünschen?«
Ning trug ein weißes T-Shirt, das ihr viel zu groß war und ihre Shorts vollständig überdeckte. Es war schwer, ihr Alter einzuschätzen. Sie kleidete sich fast wie ein Teenager, jedenfalls zu modern für Yus Geschmack. Sie hatte große, schwarze Augen und eine gerade Nase; ihr Haar war hinten zusammengebunden und wurde von einem Tuch gehalten.
»Ich bin Hauptwachtmeister Yu vom Shanghaier Polizeipräsidium. Ich muß Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»Was habe ich getan?«
»Es geht nicht um Sie, sondern um jemanden, den Sie kennen.«
»Zeigen Sie mir Ihren Ausweis«, sagte sie. »Ich wollte gerade weggehen.«
»Es dauert nicht lange.« Er zog seinen Ausweis hervor. »Wir wären für Ihre Hilfe dankbar.«
»Gut, kommen Sie herein.«
Die Wohnung war klein und gemütlich, aber für eine junge, alleinstehende Frau ziemlich unaufgeräumt. Auf dem ungemachten Bett lag eine zerknitterte Tagesdecke. Ein leerer, aber ungespülter Aschenbecher stand auf dem Tisch. An der Wand hingen keine gerahmten Bilder, sondern eine Reihe von Fotos aus Zeitschritten, auf denen Autos oder Filmstars zu sehen waren. Unter dem Bett schauten zwei paar Schuhe hervor. Jiang und Ning hatten eines gemeinsam: Beide hatten eine eigene Wohnung.
»Was wollen Sie von mir.’’« fragte sie, nachdem sie sich auf einen Rattanstuhl gesetzt hatte.
»Ich habe ein paar Fragen zu Wu Xiaoming.«
»Wu Xiaoming – warum ich?«
»Sie sind seine Freundin, stimmt’s?«
»Nein. Er hat nur ein paar Bilder von mir gemacht. Für seine Zeitschrift.«
»Wirklich?«
»Ja, das ist alles.«
»Dann wird es für Sie kein Problem sein, meine Fragen zu beantworten. Wenn Sie uns weiterhelfen, halten wir alles, was Sie sagen, aus den Akten heraus.«
»Was meinen Sie damit, Genosse Hauptwachtmeister.?«
»Wu ist in einen Mord verwickelt.«
»O Gott, was …« Ihre schwarzen Augen wurden noch größer. »Wie ist das passiert?«
»Wir wissen noch nicht sehr viel«, antwortete Yu. »Deshalb wären wir für Ihre Hilfe sehr dankbar.«
»Aber ich kann Ihnen nichts sagen. Ich kenne ihn kaum.«
»Sie können sich natürlich weigern, mit uns zusammenzuarbeiten, aber dann müssen wir uns an Ihre Arbeitseinheit wenden«, erläuterte Yu. »Die Huanpu-Grundschule, wenn ich nicht irre?«
»Tun Sie das, wenn Sie wollen. Das ist alles, was ich zu sagen habe«, entgegnete sie, wobei sie sich erhob und auf die Tür wies.
Yu ärgerte sich allmählich über Nings kratzbürstiges Verhalten.
»Ich befürchte, daß es da noch einiges zu klären gibt«, sagte er. »Wir reden hier nicht über Fotos von Ihnen in irgendwelchen Zeitschriften, sondern über die in seinem Album. Sie kennen sie sicher besser als ich.«
»Wovon reden Sie?« Sie zuckte unfreiwillig zusammen, kaschierte es aber gut. »Zeigen Sie sie mir.«
»Wir werden jedes einzelne dieser Bilder Ihrem Chef zeigen.« Jetzt bluffte er. »Diese Fotos sind alles andere als anständig. Und viele andere Leute werden diese Fotos zu sehen bekommen.«
»Dazu haben Sie kein Recht.«
»Doch, dazu haben wir sehr wohl das Recht. Wir leben
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