Qiu Xiaolong
Himmel vor dem Fenster, fischte dann eine Zigarette aus seine Tasche und zündete sie an, bevor er sich wieder auf den harten Rattanstuhl setzte. »Aber wie konnten Sie ihm erlauben, diese Fotos zu machen?«
»Ich hatte ihm ja zuerst auf beruflicher Ebene Modell gesessen«, sagte sie schluchzend. »Später habe ich ihm erlaubt, ein intimeres Foto zu machen … Er hatte seine eigene Dunkelkammer und seine eigene Ausrüstung, deshalb machte ich mir keine Sorgen. Aber diese gräßlichen Nacktfotos hat er gemacht, als ich schlief. Und er hat sich auf mich gelegt, ohne daß ich es wußte.«
»Ah, ich verstehe.« Also war nicht nur Ning auf diesen Aufnahmen zu sehen, sondern Ning zusammen mit Wu. Yu benötigte etwas Zeit, um diese neue Information zu verarbeiten. Offenbar hatte Wu die Bilder aus einem ganz bestimmten Grund gemacht und aufbewahrt: Um sich eines Mädchens zu entledigen, wenn er genug von ihm hatte.
»Und das war dann das Ende Ihrer Affäre?« fragte Yu.
»Ja. Danach hat er nichts mehr von sich hören lassen.«
»Nur noch eine weitere Frage: War Wu, als Sie sich trennten, mit jemand anderem zusammen?«
»Ich war mir nicht sicher, aber auf den Partys waren auch andere Mädchen.«
»Hieß eines dieser Mädchen Guan Hongying?«
»Nein. Guan Hongying – ist das nicht diese nationale Modellarbeiterin? Du lieber Himmel!«
Yu zog ein Foto von Guan aus seiner Tasche. »Erkennen Sie sie wieder?«
»Ja, ich glaube schon. Ich habe sie nur einmal in Wus Villa gesehen. Ich erinnere mich an sie, weil sie den ganzen Abend an ihm klebte, aber ich wußte damals nicht, wie sie hieß. Wu hat sie niemandem vorgestellt.«
»Das hat er ganz bestimmt nicht«, sagte Yu. »Wissen Sie sonst noch etwas über sie?«
»Nein, das ist alles.« Sie kramte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch.
»Setzen Sie sich mit mir in Verbindung, wenn Ihnen noch irgend etwas einfallt, Genossin Ning.«
»Das werde ich tun.« Dann fügte sie hinzu: »Sie werden niemandem etwas sagen?«
»Ich werde mein Bestes tun«, versprach er.
Sie geleitete ihn zur Tür. Ihr Gesicht war tränenüberströmt; sie ließ den Kopf hängen und war jetzt nicht mehr die feindselige Kontrahentin, sondern zupfte nervös mit ihren Händen am Saum ihres zu großen T-Shirts.
Yu war es gelungen, sie auszutricksen und an Informationen zu kommen, mit denen er nicht gerechnet hatte. Und doch versetzte ihn das nicht in Hochstimmung. Auch Ning war ein Opfer.
Er begab sich auf den langen Heimweg. Durch die neuen Erkenntnisse waren sie auf der Suche nach des Rätsels Lösung nicht weitergekommen, vielmehr war der Fall dadurch nur noch verworrener geworden.
24
ES WAR Oberinspektor Chens fünfter Tag in Guangzhou. Beim Aufwachen hatte er eine Notiz auf dem Nachttisch gefunden. Sie bestand lediglich aus einer Adresse mit einer kurzen Zeile darunter:
Xie Rong. 60 Xinhe Lu, #543.
Sie finden sie dort. Einen schönen Tag. Ouyang
Die Xinhe Lu war eher eine der ruhigeren Straßen. Oberinspektor Chen passierte ein heruntergekommenes türkisches Dampfbad und ein Schickimicki-Cafe, das mit dem Schild »E-Mails« warb und auf dessen Glastischen Computer standen. Die angegebene Adresse war ein hohes Gebäude. Das alte, verfallene Bauwerk war weder ein Büro- noch ein Wohnhaus. Dennoch saß am Eingang ein Türwächter, der Post sortierte. Über seine Brille hinweg starrte er zu Chen hoch. Als Chen ihm die Anschrift zeigte, deutete er auf den Fahrstuhl.
Chen wartete ungefähr zehn Minuten, ohne daß der Aufzug Anstalten machte, herunterzukommen. Er wollte schon die Treppe nehmen, als der Fahrstuhl endlich mit einem dumpfen Schlag hielt. Er schien noch älter als das Gebäude zu sein, er brachte Chen aber in die vierte Etage, wo er schaukelnd zum Stehen kam.
Als Chen durch die quietschende Tür hinausging, hatte er das merkwürdige Gefühl, in einem Film aus den dreißiger Jahren gelandet zu sein. Er ging durch einen engen Korridor, wo es nach kaltem Zigarrenrauch roch.
Oberinspektor Chen klopfte an die Tür mit der Nummer 543.
»Wer ist da?« rief die Stimme eines jungen Mädchens.
»Chen Cao, der Freund von Herrn Ouyang.«
»Kommen Sie herein. Die Tür ist nicht abgeschlossen.«
Chen drückte auf die Klinke und befand sich in einem Zimmer mit halb heruntergezogenem Samtvorhang. Das Mobiliar beschränkte sich auf ein Doppelbett, einen großen Spiegel an der Wand, genau über dem Kopfende, ein Sofa, das mit einem Tuch bedeckt war, einen Nachttisch und ein paar
Weitere Kostenlose Bücher