Qiu Xiaolong
Stelle im Außenministerium erwartete. Anfang der achtziger Jahre bekamen alle Absolventen ihre Arbeitsplätze von den Behörden zugewiesen, und als besonders guter Student waren seine Unterlagen vom Ministerium angefordert worden. Er hätte sich nie aus freien Stücken für eine Diplomatenkarriere entschieden, obwohl eine solche für einen Englischstudenten allgemein als höchst erstrebenswert galt. Doch in letzter Minute war dann wieder alles anders gekommen. Bei der Überprüfung seines familiären Hintergrunds stellten die Behörden fest, daß einer seiner Onkel Anfang der fünfziger Jahre als Konterrevolutionär hingerichtet worden war. Diesen Onkel hatte er zwar nie kennengelernt, doch eine solche Familienverbindung war für einen Anwärter auf den diplomatischen Dienst politisch undenkbar. Also nahm das Ministerium seinen Namen von der Liste, und er bekam eine Stelle im Shanghaier Polizeipräsidium zugewiesen. Dort beschäftigte er sich in den ersten Jahren damit, ein Verhör-Handbuch zu übersetzen, das niemand lesen wollte, und politische Berichte für Parteisekretär Li zu verfassen, was Chen nicht gerne tat. Erst in den letzten paar Jahren hatte er tatsächlich als Polizist gearbeitet, anfangs auf der untersten Ebene und nun plötzlich als Oberinspektor. Allerdings war er nur zuständig für die »Spezialfälle«, die ihm zugewiesen wurden. Yu und auch viele andere im Polizeipräsidium waren nicht nur deshalb auf Chen sauer, weil er unter Dengs Kaderpolitik so rasch aufstieg, sondern auch, weil er sich nach wie vor mit Literatur beschäftigte, was die anderen nur allzugern als Beeinträchtigung seines beruflichen Engagements sahen.
Chen las den Fallbericht ein zweites Mal, dann war es Mittag. Als er aus seinem Büro trat, fand er auf dem zentralen Anrufbeantworter eine Nachricht vor. Der Anruf war wohl schon vor seiner Ankunft heute morgen eingegangen:
»Hallo, ich bin’s, Lu. Ich arbeite im Restaurant. Unserem Restaurant Moscow Suburb. Einem Feinschmeckerparadies! Ich muß dich unbedingt sprechen! Ruf mich unter der Nummer 638-0843 an!«
Typisch Überseechinese Lu – die Erregung, die Überschwenglichkeit. Chen wählte die angegebene Nummer.
»Moscow Suburb.«
»Lu, um was geht es?«
»Ach, du bist es. Wie lief es denn gestern abend?«
»Gut. Du warst doch auch da!«
»Nein, ich meine natürlich, nachdem wir weg waren. Wie lief es mit dir und Wang?«
»Nichts lief. Wir haben noch ein wenig getanzt, und dann ging sie heim.«
»Zu schade, alter Freund«, sagte Lu. »Wozu bist du eigentlich Oberinspektor? Du bemerkst ja nicht mal die offensichtlichsten Indizien!«
»Was für Indizien?«
»Als wir gingen, wollte sie noch bleiben, und zwar allein, nur mit dir. Und zwar die ganze Nacht. Das war absolut unmißverständlich! Sie ist verrückt nach dir!«
»Na ja, da bin ich mir nicht so sicher«, sagte Chen. »Reden wir lieber über etwas anderes. Wie geht es dir?«
»Ja – Ruru meinte, ich sollte mich nochmals bei dir bedanken. Du bist unser Glücksstern. Alles läuft bestens. Alle Unterlagen sind unterschrieben, und ich bin jetzt eingezogen, in unser eigenes Restaurant. Ich muß nur noch das Schild austauschen. Ich will ein großes Neonschild, auf chinesisch und englisch.«
»Wie bitte? Du meinst wohl auf chinesisch und russisch.«
»Wer spricht heute noch Russisch? Aber neben unseren Gerichten werden wir noch etwas anderes echt Russisches anbieten können, das kann ich dir sagen, und zwar etwas ausgesprochen Leckeres!« Lu kicherte geheimnisvoll. »Mit deinem großzügigen Darlehen werden wir kommenden Montag unsere Eröffnung feiern. Es wird ein rauschender Erfolg werden.«
»Du bist dir deiner Sache ja ziemlich sicher.«
»Na ja, ich habe noch ein As im Ärmel. Alle werden staunen.«
»Weshalb denn?«
»Komm vorbei und sieh es dir selbst an! Und iß nach Herzenslust!«
»Selbstverständlich. Um nichts auf der Welt würde ich mir deinen Borschtsch entgehen lassen wollen, Überseechinese!«
»Also bist auch du ein Feinschmecker. Bis bald!« Abgesehen davon hatten sie allerdings wenig gemeinsam, dachte Oberinspektor Chen lächelnd, als er den Hörer auflegte. Lu war in ihrer Schulzeit zu seinem Spitznamen gekommen, und zwar nicht nur, weil er während der Kulturrevolution ein Jackett im westlichen Stil trug. Lus Vater hatte vor 1949 ein Pelzgeschäft besessen, war also ein Kapitalist gewesen, und Lu war dadurch zu einem »schwarzen Jugendlichen« geworden. Ende der sechziger Jahre war
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