Qiu Xiaolong
jedoch keine Kratzer auf. Sie hatte dünne, dunkle Augenbrauen, eine gerade Nase und eine breite Stirn. Ihre Beine waren lang und wohlgeformt, ihre Füße klein, die Zehen schlank. Die Zehennägel waren dunkelrot lackiert. Auch die Hände waren klein, an den gepflegten Fingern befanden sich keine Ringe. Kein Blut, keine Erde oder Haut unter den Nägeln. Die Hüften waren breit, sie hatte dichtes schwarzes Schamhaar. Möglicherweise hatte sie vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr. Bis auf ein paar blaue Flecken am Hals, allerdings kaum sichtbar, und einen kleinen Kratzer am Schlüsselbein fanden sich an der Leiche keine Spuren von Gewalt; die Haut war also weitgehend unversehrt, am ganzen Körper sonst keine weiteren Blutergüsse. Die Beine zeigten keine Druckstellen, was ebenfalls dafür spricht, daß vor ihrem Tod kein Kampf stattgefunden hat. Um ihre Augen befanden sich jedoch kleinere Blutergüsse, die auf einen Tod durch Ersticken hinweisen könnten.
2. Fundort der Leiche: Der Baili-Kanal, ein kleiner Kanal des Suzhou Creek, etwa 16 Kilometer westlich der Shanghaier Papierfabrik. Es handelt sich genaugenommen um einen toten Flußarm, der von Büschen und hohem Schilf überwuchert ist. Vor einigen Jahren dachte man daran, dort eine Chemiefabrik zu errichten, ließ den Plan jedoch wieder fallen. An einem Ufer befindet sich ein alter Friedhof mit weitverstreuten Gräbern. Der Kanal ist schwer zugänglich, und zwar sowohl auf dem Landweg als auch über das Wasser. Ein Bus hält hier nicht. Den Anwohnern zufolge gehen nur wenige dorthin, um zu angeln.
3. Die Zeugen: Gao Ziling. Kapitän der Vorhut, Shanghaier Wasserwacht. Liu Guoliang, ein alter Schulfreund Kapitän Gaos, leitender Ingenieur in einem nuklearwissenschaftlichen Institut in Qinghai. Beide sind Parteimitglieder und ohne Vorstrafen.
Mögliche Todesursache: Erwürgen in Tateinheit mit sexueller Gewalt.«
Nachdem er den Bericht zu Ende gelesen hatte, zündete sich Oberinspektor Chen eine Zigarette an und dachte nach. In den Rauchringen nahmen zwei Möglichkeiten Gestalt an: Entweder war sie auf einem Boot vergewaltigt, umgebracht und dann in den Kanal geworfen worden, oder das Verbrechen hatte an einem anderen Ort stattgefunden und ihre Leiche war nachträglich zum Kanal transportiert worden.
Den ersten Tathergang hielt er für wenig wahrscheinlich. Es wäre extrem schwierig, wenn nicht gar unmöglich, einen Mord in Anwesenheit weiterer Passagiere zu begehen. Doch wenn der Mörder mit seinem Opfer allein an Bord gewesen wäre, warum hätte er die Leiche dann in einen Plastiksack stecken sollen? Der Kanal war so abgelegen, und höchstwahrscheinlich war es mitten in der Nacht passiert – er hätte die Leiche einfach in den Kanal werfen können. Zum zweiten Tathergang würde der Plastiksack besser passen, doch dann hätte der Mord überall geschehen sein können.
Als er wieder in das Großraumbüro blickte, saß Yu an seinem Schreibtisch und trank eine Tasse Tee. Automatisch tastete Chen nach der Thermosflasche auf dem Fußboden. Es war noch genügend Wasser darin, er brauchte also nicht zum Heißwasserboiler nach unten zu gehen. Er wählte Yus Nummer.
»Hauptwachtmeister Yu Guangming, bitte erstatten Sie mir Bericht.« Es dauerte keine Minute, bis Yu an der Tür stand, ein großer, ziemlich kräftiger Mann Anfang Vierzig mit einem wettergegerbten Gesicht und einem tiefen, durchdringenden Blick. Er hielt einen dicken Umschlag in der Hand.
»Sie haben gestern nacht sicher lange gearbeitet.« Chen bot seinem Assistenten eine Tasse Tee an. »Ich habe soeben Ihren Bericht gelesen. Gute Arbeit!«
»Danke.«
»Gibt es heute morgen schon etwas Neues?«
»Nein, es steht alles in dem Bericht.«
»Und die Liste der vermißten Personen?«
»Niemand auf dieser Liste ähnelt ihr«, sagte Yu und überreichte Chen die Akte. »Die Fotos sind gerade aus dem Labor gekommen. Sie lag wahrscheinlich noch nicht sehr lange im Wasser, vermutlich nicht mehr als zwanzig Stunden.«
Chen betrachtete die Aufnahmen. Fotos der Toten am Flußufer, nackt oder teilweise zugedeckt, ein paar Nahaufnahmen. Das letzte, offenbar in der Gerichtsmedizin aufgenommen, zeigte ihr Gesicht in Großaufnahme, den Körper bedeckte ein weißes Tuch.
»Was meinen Sie?« Yu blies bedächtig in seinen heißen Tee.
»Mehrere Tattergänge sind denkbar. Bis die Gerichtsmediziner fertig sind, läßt sich nichts Definitives sagen.«
»Ja, der Autopsiebericht wird wahrscheinlich heute am
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