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Qiu Xiaolong

Qiu Xiaolong

Titel: Qiu Xiaolong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tod einer roten Heldin
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in ein Buch vertieft, auf einem niedrigen Schemel. Ihr Haar war mit einer kleinmädchenhaften Schleife zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie hatte keine Kunden. Wer kam hier schon vorbei? In einem zerbeulten Blechbecher, der auf einem dicken Bündel zu ihren Füßen stand, funkelten nur wenige Münzen. Offenbar war sie keine Straßenhändlerin, nicht eine, der es um den Profit ging, sondern nur ein einfaches Dorfmädchen. Jung und unschuldig saß sie in dieser ländlichen Idylle, las in ihrem Buch – vielleicht eine Gedichtsammlung – und bot durstigen Reisenden, die hier vorbeikamen, Erfrischung an.
    Diese Kleinigkeiten, die ihm da durch den Kopf schwirrten, fügten sich zu einem Bild, auf das er einmal in den Schriften aus der Tang- und Song-Zeit gestoßen war:
    Schlank, biegsam, ist sie kaum älter als dreizehn
    Die Spitze einer Kardamomknospe, Anfang März.
    »Entschuldigung«, sagte er und stellte sein Motorrad am Straßenrand ab, »weißt du, wo der Baili-Kanal ist?«
    »Der Baili-Kanal? Ach ja, immer geradeaus, noch etwa acht Kilometer.«
    »Danke.«
    Er bat sie noch um einen großen Becher Tee.
    »Drei Fen«, sagte das Mädchen, ohne von seinem Buch aufzublicken.
    »Was liest du denn da?«
    »Visual Basics.«
    Diese Antwort paßte zwar nicht zu dem Bild das er sich zurechtgelegt hatte, war aber nicht überraschend. Auch er hatte sich bei einem Abendkurs in die Windows-Anwendungen einführen lassen.
    »Ach, Computerprogrammierung«, sagte er. »Sehr interessant.«
    »Beschäftigen Sie sich auch damit?«
    »Nicht sehr intensiv.«
    »Brauchen Sie ein paar CDs?«
    »Wie bitte?«
    »Spottbillig. Eine Menge modernster Software: Chinese Star, TwinBridge, Dragon Dictionary, alle möglichen Schriften, traditionelle und vereinfachte …«
    »Nein danke«, sagte er und zog einen Ein-Yuan-Schein heraus.
    Die CDs, die sie ihm da anbot, waren womöglich wirklich spottbillig. Er wußte, daß es solche unrechtmäßig vervielfältigten Produkte gab, aber er wollte nichts damit zu tun haben, nicht in seinem Beruf.
    »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht rausgeben.«
    »Gib mir einfach dein ganzes Kleingeld.«
    Das Mädchen reichte ihm ihre Münzen, steckte den Ein-Yuan-Schein jedoch – trotz ihrer Jugend umsichtig auf ihren Profit bedacht – nicht in den Blechbecher zu ihren Füßen, sondern in ihre Tasche. Schließlich begab sie sich wieder auf ihre Reise in den Cyberspace; ein kleiner Luftzug ließ die Schleife an ihrem Pferdeschwanz wie einen Schmetterling tanzen.
    Doch seine vorherige Stimmung war verflogen.
    Erst nach gut drei Kilometern fiel ihm ein, daß er als Oberinspektor diesen CD-Handel eigentlich hätte unterbinden müssen.
    Als er endlich zum Kanal kam, war es schon nach zwei.
    Nicht eine einzige Wolke war zu sehen. Die Nachmittagssonne hing einsam am strahlendblauen Himmel. Sie beschien eine völlig menschenleere Landschaft, einen Winkel, den die restliche Welt offenbar vergessen hatte. Hohes Schilfgras und dichtes Buschwerk wuchsen an den Ufern des Kanals. Chen stand reglos am Rand des stillen Wassers inmitten der wildwuchernden Büsche, doch nicht allzuweit entfernt glaubte er das geschäftige Treiben Shanghais zu vernehmen.
    Wer war das Mordopfer? Wie hatte sie gelebt? Mit wem war sie vor ihrem Tod zusammengewesen?
    Er hatte sich vom Fundort der Leiche nicht allzuviel erwartet. Die schweren Regenfälle der vergangenen Tage hatten wohl ohnehin jede Spur verwischt. Dennoch hatte er gehofft, daß es ihm seine Anwesenheit an diesem Ort irgendwie ermöglichen würde, eine Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten herzustellen. Aber er wartete vergeblich auf eine Eingebung. Statt dessen wanderten seine Gedanken wieder zurück zum Polizeipräsidium und den dort herrschenden Gepflogenheiten. Am Herausfischen einer Leiche aus einem Kanal war nichts Bemerkenswertes, zumindest nicht für die Mordkommission. Sie hatten zuvor ähnliche Fälle gehabt und würden sie auch in Zukunft haben. Es erforderte keinen Oberinspektor, um einen solchen Fall zu bearbeiten, jedenfalls nicht jetzt, wo er sich auf ein wichtiges Seminar vorbereiten mußte.
    Und wahrscheinlich war dieser Fall nicht in wenigen Tagen zu lösen. Es gab keine Zeugen und auch keine greifbaren Spuren, denn die Leiche hatte ja schon einige Zeit im Wasser gelegen. Das, was man bisher gefunden hatte, war für die Ermittlungen relativ belanglos. Erfahrene Hasen hätten sich vor so einem Fall sicher gedrückt. Hauptwachtmeister Yu hatte sich bereits dahingehend

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