Qiu Xiaolong
die Bezeichnung »Überseechinese« alles andere als schmeichelhaft; aufgrund seiner Verbindungen zum Westen konnte jemand als politisch unzuverlässig eingestuft oder mit einem extravaganten bourgeoisen Lebensstil in Verbindung gebracht werden. Lu aber hatte sein »dekadentes« Image mit dickköpfigem Stolz gepflegt – dazu hatten Kaffee, Apfelkuchen und Obstsalat gehört und natürlich das Tragen eines westlichen Anzugs am Eßtisch. Er hatte sich mit Chen angefreundet, der mit einem »bürgerlichen Professor« als Vater ein weiterer »schwarzer Jugendlicher« gewesen war. Die beiden mit demselben Stempel versehenen Jungen trösteten sich damals gegenseitig. Lu machte es sich zur Gewohnheit, Chen zu seinen geglückten Küchenexperimenten einzuladen. Nach der Schule war Lu als gebildeter jugendlicher aufs Land geschickt worden, um sich zehn Jahre lang von armen und unteren Mittelbauern umerziehen zu lassen. Erst Anfang der achtziger Jahre war er nach Shanghai zurückgekehrt. Als Chen aus Peking zurückkam, trafen sie sich wieder und merkten, wie verschieden sie waren. Doch all die Jahre hindurch waren sie trotzdem Freunde geblieben, denen die Freude an gutem Essen gemeinsam war. Zwanzig Jahre wie ein Traum vergangen Es ist ein Wunder, daß wir noch hier sind, zusammen. Oberinspektor Chen kamen diese beiden Zeilen von Chen Yuyi, einem Dichter aus der Song-Zeit, in den Sinn, aber er war sich nicht sicher, ob er nicht das eine oder andere Wort vergessen hatte.
4
NACH EINEM MITTAGESSEN in der Kantine des Präsidiums, das alles andere als kulinarisch war, zog Chen los, um sich eine Gedichtsammlung von Chen Yuyi zu besorgen.
Vor kurzem hatten in der Fuzhou Lu ganz in der Nähe des Präsidiums mehrere private Buchhandlungen aufgemacht. Es waren zwar nur kleine Geschäfte, doch die Angestellten bemühten sich sehr um ihre Kunden. An der Ecke Shandong Zhonglu fiel Chen ein neues Apartmenthochhaus ins Auge, offenbar das erste einer neuen Wohnblockanlage, die dort entstehen sollte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand noch eine Reihe niedriger, heruntergekommener Häuser, Überbleibsel aus den zwanziger Jahren, die noch keinerlei Anzeichen der bevorstehenden Veränderungen aufwiesen. Dort, in dieser Mischung aus Alt und Neu, befand sich die Buchhandlung, die Chen nun betrat. Es war ein winziger Familienbetrieb, der jedoch ein umfangreiches Sortiment alter und neuer Bücher besaß. Hinter einem Bambusperlenvorhang im hinteren Teil des Ladens hörte er ein Baby plappern.
Nach Chen Yuyi suchte er vergebens. In der Abteilung für klassische chinesische Literatur fand er eine imposante Menge von Gongfu-Romanen, verfaßt von Schriftstellern aus Hongkong und Taiwan, doch praktisch nichts sonst. Er wollte schon wieder gehen, da fiel ihm plötzlich ein spätes Werk seines Vaters ins Auge, ein Sammelband neokonfuzianischer Abhandlungen. Er lag halb versteckt unter einem ebenfalls zum Verkauf angebotenen Plakat, das ein junges Mädchen in einem knappen Bikini zeigte. Er ging mit dem Buch zur Kasse.
»Sie haben einen guten Blick für Bücher«, sagte der Besitzer, der gerade eine Schüssel Reis mit Grünkohl aß. »Das kostet hundertzwanzig Yuan.«
»Wie bitte?« fragte Chen verblüfft.
»Dieses Buch ist früher als rechtsgerichteter Angriff auf die Partei kritisiert worden, schon in den Fünfzigern war es vergriffen.«
»Hören Sie«, erwiderte Chen, »mein Vater hat dieses Buch geschrieben, ursprünglich hat es knapp zwei Yuan gekostet.«
»Ach ja?« meinte der Besitzer und musterte ihn kurz. »Na gut, für Sie fünfzig Yuan, und das Plakat bekommen Sie gratis dazu.«
Chen nahm das Buch, auf die Dreingabe verzichtete er. Das Mädchen auf dem Plakat hatte eine winzige Narbe auf der Schulter, die ihn an das tote Mädchen erinnerte. Einige Fotos von ihr in der Gerichtsmedizin zeigten sie noch spärlicher bedeckt als dieses Bikinimädchen. Er glaubte sich zu erinnern, an irgendeiner Stelle ihres Körpers eine Narbe gesehen zu haben.
Oder war das am Körper eines anderen Mädchens gewesen? Im Moment war er etwas verwirrt.
Auf dem Rückweg ins Büro begann er, im Buch seines Vaters zu blättern. Diese Art zu lesen hatte sein Vater immer sehr mißbilligt, doch das Buch reizte ihn zu sehr, er mußte einfach hineinschauen.
In seinem Büro wollte sich Chen eine Tasse Gongfu-Tee aufbrühen – eine weitere Gourmetpraxis, die er vom Überseechinesen Lu übernommen hatte –, denn er wollte konzentrierter weiterlesen.
Weitere Kostenlose Bücher