Qiu Xiaolong
Gerade hatte er ein paar Teeblätter in eine winzige Tasse gestreut, da klingelte das Telefon.
Es war Parteisekretär Li Guohua. Li war nicht nur der höchste Parteifunktionär im Präsidium, sondern auch Chens Mentor. Er hatte Chen in die Partei eingeführt und keine Mühen gescheut, ihm alles zu erklären, bis er ihn schließlich in seine momentane Stellung gehievt hatte. Li besaß eine besondere Gabe, die jedem im Präsidium wohlbekannt war: Im Lauf der Jahre hatte er mit nahezu untrüglichem Instinkt bei innerparteilichen Konflikten stets auf den Gewinner gesetzt. Anfang der fünfziger Jahre war er als junger Beamter zur Polizei gekommen und hatte dann durch zahllose politische Strömungen hindurch seinen Weg gemacht, bis er zu guter Letzt an die Spitze des Präsidiums aufgestiegen war. Die meisten erachteten es als einen weiteren meisterhaften Streich von Li, Chen als seinen möglichen Nachfolger persönlich ausgewählt zu haben, obwohl manche es für eine riskante Investition hielten. Polizeichef Zhao hatte jedenfalls einen anderen Kandidaten für den Posten des Oberinspektors vorgeschlagen.
»Ist denn mit Ihrer neuen Wohnung alles in Ordnung, Genosse Oberinspektor?«
»Danke, Genosse Parteisekretär Li. Alles ist in bester Ordnung.«
»Das ist gut. Und die Arbeit im Büro?«
»Hauptwachtmeister Yu hat gestern einen Fall übernommen: eine weibliche Leiche, die in einem Kanal im Kreis Qingpu gefunden wurde. Ich überlege allerdings noch, ob wir uns wirklich darum kümmern können. Wir haben momentan wenig Personal.«
»Überlassen Sie den Fall doch anderen. Sie arbeiten ja schließlich in einer Spezialabteilung.«
»Aber Hauptwachtmeister Yu hat den Fundort der Leiche schon inspiziert. Wir würden den Fall gerne von Anfang an bearbeiten.«
»Vielleicht haben Sie gar keine Zeit dafür. Ich wollte Ihnen auch ein paar Neuigkeiten berichten. Sie werden das Seminar besuchen, das das Zentralinstitut der Partei im Oktober veranstaltet.«
»Das Seminar des Zentralinstituts der Partei!«
»Ja, ist das nicht eine ausgezeichnete Gelegenheit? Ich habe Ihren Namen letzten Monat auf die Liste der empfohlenen Teilnehmer gesetzt. Das ist zwar ziemlich langfristig geplant, dachte ich, aber heute hat man uns die Entscheidungen mitgeteilt. Ich werde Ihnen eine Kopie des offiziellen Einladungsschreibens zukommen lassen. Sie haben es weit gebracht, Genosse Oberinspektor Chen!«
»Sie haben so viel für mich getan, Parteisekretär Li! Wie kann ich Ihnen nur jemals danken?« Doch dann fügte er noch hinzu: »Vielleicht ist das ja ein weiteres Argument dafür, daß wir den Fall übernehmen sollten. Ich kann doch nicht Oberinspektor sein, ohne wenigstens ein paar Fälle persönlich aufgeklärt zu haben.«
»Na ja, das liegt ganz bei Ihnen«, sagte Li. »Aber Sie müssen sich auf das Seminar vorbereiten. Sie wissen selbst, wieviel das Seminar für Ihre weitere Karriere bedeuten kann. Es erwarten Sie noch weitaus wichtigere Aufgaben, Genosse Oberinspektor.«
Dieses Gespräch mit Parteisekretär Li veranlaßte Chen, noch einige Ermittlungen anzustellen, bevor er sich endgültig entscheiden wollte, den Fall zu übernehmen oder abzulehnen. Er holte sich aus der Bibliothek eine Karte von der Umgebung, dann ging er zum Fuhrpark des Präsidiums und lieh sich ein Motorrad aus.
Draußen war es drückend heiß. Die Zikaden hielten offenbar ein Mittagsschläfchen in den hohen Bäumen, sie ließen nichts von sich hören. Selbst der Briefkasten an der Straßenbiegung wirkte schläfrig. Chen zog seine Uniformjacke aus, darunter trug er nur ein kurzärmliges T-Shirt. So fuhr er los.
Die Fahrt zum Baili-Kanal war einigermaßen schwierig. Sobald er das Gewerbegebiet von Hongqiao hinter sich gelassen hatte, gab es kaum noch Straßenschilder. Er wollte an einer schäbigen Tankstelle nach dem Weg fragen, doch der einzige Angestellte hielt gerade einen Mittagsschlaf; er hatte den Kopf auf die Theke gelegt, aus dem Mundwinkel rann Spucke. Die Gegend wurde immer ländlicher. Hier und da sah man Hügel in der Ferne, aus einem versteckten Schornstein stieg eine einsame, dünne weiße Rauchfahne wie eine Zeile Noten in den Himmel. Seiner Karte zufolge mußte der Kanal hier irgendwo in der Nähe sein. An einer Kurve zweigte ein gewundener Pfad von der Straße ab, er führte wohl zu einem Dorf. An dieser Stelle saß ein Mädchen und verkaufte Tee in großen Schalen, die auf einer Holzbank standen. Sie war kaum älter als dreizehn, vierzehn und saß,
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