Qiu Xiaolong
würde. Und was aus ihm selbst?
Er wußte bloß, daß er niemals imstande sein würde, sich bei Ling zu revanchieren.
Er hatte ihr geschrieben, um sie um Hilfe zu bitten. Aber er hatte nicht erwartet, daß sie ihm auf diese Art helfen würde.
Auf einmal merkte er, daß er wieder den Bund ansteuerte. Noch zu dieser späten Stunde wimmelte es dort von jungen Liebespaaren, die miteinander flüsterten. Hier war es gewesen, daß ihm der Gedanke gekommen war, den Brief an Ling zu schreiben, gerade als die große Uhr vom Turm des Zollamts geschlagen hatte.
Noch während man über sie nachdenkt, wird aus der Gegenwart schon Vergangenheit.
Jener Nachmittag im Beihai-Park. Natürlich erinnerte er sich; auch wenn er seither vermieden hatte, daran zu denken. Der Beihai-Park. Dort hatte er Ling kennengelernt, in der Nähe der Pekinger Stadtbibliothek, und dort hatte er sich auch von ihr getrennt.
Er hatte über ihre Familie nichts gewußt, als sie einander zum erstenmal in der Bibliothek begegnet waren. Damals, im Frühsommer 1981, war er das dritte Jahr am Pekinger Fremdspracheninstitut gewesen. Er hatte sich entschlossen, in jenem Sommer in Peking zu wohnen, weil er sich in seiner Dachkammer in Shanghai kaum konzentrieren konnte. Damals schrieb er gerade an seiner Zulassungsarbeit über T. S. Eliot. Und so ging er jeden Tag in die Bibliothek.
Das Bibliotheksgebäude war ursprünglich eine der vielen kaiserlichen Hallen der Verbotenen Stadt gewesen. Nach 1949 war sie zur Pekinger Stadtbibliothek umgebaut worden. In der Volkszeitung wurde erklärt, daß es die Verbotene Stadt nicht mehr gäbe; jetzt konnten ganz gewöhnliche Menschen ihre Tage in der kaiserlichen Halle verbringen und lesen. Die Lage der Bibliothek war herrlich: Sie grenzte an den Beihai-Park, wo die Weiße Pagode in der Sonne schimmerte, und war nicht weit entfernt vom Mittleren und Südlichen See jenseits der Beihai-Brücke. Als Bibliothek war das Gebäude jedoch nicht ideal. Das hölzerne Gitterwerk der Fenster und die jüngst wieder eingesetzten gefärbten Scheiben ließen nicht genug Licht herein, weshalb jeder Benutzerplatz seine eigene Lampe hatte.
Ling war dort als Bibliothekarin tätig und für die Fremdsprachenabteilung zuständig gewesen. Sie saß mit ihren Kollegen in der Nische eines Erkerfensters, die durch einen langen, geschwungenen Schaltertisch vom übrigen Raum abgetrennt war. Die Bibliothekare wechselten sich darin ab, neuen Benutzern im Flüsterton die Regeln zu erklären und Bücher auszuhändigen, und schrieben dazwischen an ihren Berichten. Ling war es gewesen, der Chen am Morgen immer die Liste mit seinen Bücherwünschen gereicht hatte. Während er auf ihre Rückkehr wartete, begann er, sie immer aufmerksamer wahrzunehmen. Ein attraktives Mädchen von Anfang Zwanzig und gesundem Aussehen, ging sie resolut auf hohen Absätzen hin und her. Ihre weiße Bluse war einfach, aber kleidete sie gut. Um den Hals trug sie an dünner roter Schnur ein silbernes Amulett. Irgendwie registrierte Chen viele Einzelheiten an diesem Mädchen, obwohl sie meistens mit dem Rücken zu ihm saß, mit den anderen Bibliothekaren flüsterte oder ihrerseits in einem Buch las. Sprach sie mit ihm und lächelte ihn an, dann waren ihre großen Augen so klar, daß sie ihn an den wolkenlosen Herbsthimmel über Peking erinnerten.
Vielleicht bemerkte sie auch ihn. Seine Lektüreliste war eine wunderliche Mischung aus Philosophie, Lyrik, Psychologie, Soziologie und Krimis. Seine Zulassungsarbeit war anspruchsvoll, und er las die Krimis, um sich zu erholen. Verschiedentlich hatte sie Bücher für ihn zurückgelegt, ohne daß er darum gebeten hätte, darunter eines von P. D. James. Sie hatte ein stillschweigendes Verständnis für ihn. Er bemerkte, daß auf seinen Bestellscheinen, die zwischen den Buchseiten herausragten, sein Name unterstrichen war.
Es war angenehm, den Tag in der Bibliothek zu verbringen: unter einem grünen Lampenschirm an einem farbigen Fenster zu lesen, im alten Innenhof herumzuspazieren, wo Bronzekraniche die Besucher anblickten, beim Auf- und Abgehen auf der Veranda seinen Gedanken nachzuhängen, die schrägen Dachfirste aus gelben Drachenziegeln zu betrachten, die in die weißen Wolken ragten. Oder einfach zu warten und der hübschen Bibliothekarin zuzusehen. Auch sie war völlig absorbiert, wenn sie las, den Kopf leicht gegen die rechte Schulter geneigt. Manchmal hielt sie inne, um nachzudenken, sah nach draußen auf die Pappel vor dem
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