Qiu Xiaolong
nach dem Verlassen des Präsidiums in eine Seitenstraße ab und dann in eine kleine Gasse, wo es ein Telefonhäuschen mit einem öffentlichen Fernsprecher wie an der Qinghe Lane gab. Bevor er das Telefonhäuschen betrat, sah er sich um und vergewisserte sich, daß ihm niemand gefolgt war. Ein behinderter Dienstmann, mit dem Handrücken vor dem Mund hustend, nickte Chen zu, während dieser die Nummer des Überseechinesen Lu wählte.
»Du hast mich ruiniert, Genosse Oberinspektor Chen«, sagte Lu.
»Wieso?«
»Die gebratenen Aalnudeln dort sind so ausgezeichnet, die Suppe ist sämig und dick, mit einer Handvoll Schinkenwürfeln und grünen Zwiebeln dann, aber dermaßen teuer!« seufzte Lu. »Zwölf Yuan die Schüssel. Trotzdem gehe ich jeden Morgen wieder hin.«
»Ach, du meinst das Vier Meere«, sagte Chen erleichtert. »Um das ist mir nicht bange. Heute, wo du Taschen voller Geld hast, kannst du es dir doch leisten, wie ein echter millionenschwerer Überseechinese aufzutreten!«
»Es lohnt sich, Freundchen! Und ich habe dabei ein paar wichtige Informationen für dich ergattert.«
»Wie das?«
»Der Alte Jäger, der Vater unseres Partners, hat einen weißen Wagen beobachtet, der in Wus Stadtviertel herumfuhr. Einen nagelneuen Lexus, genau wie das Auto von Wu. Da der Alte vorübergehend den Verkehr kontrollieren muß, hat er sich jetzt in der Gegend der Hengshan Lu aufgestellt. Wu ist nicht in Shanghai, und der Alte fragt sich, wer wohl den weißen Wagen gefahren hat.«
»Ja, das wäre eine Beobachtung, die uns weiterbrächte. Sag ihm, er soll auf das Nummernschild achten«, sagte Chen.
»Ihm ist nichts zu schwer. Peiqin hat mir erzählt, daß er ganz versessen darauf ist, etwas beizutragen. Peiqin selbst auch; sie ist zu allem bereit. Eine wunderbare Frau! – Noch etwas«, fügte Lu hinzu. »Vergiß nicht, Wang anzurufen. Sie hat schon ein paarmal mit mir telefoniert – sie macht sich Sorgen um dich. Sie sagt, du wüßtest, warum sie sich nicht selber bei dir meldet.«
»Ja, ich weiß es. Ich werde sie noch heute anrufen.«
Chen rief bei Wang an, aber sie hatte einen Termin und war nicht da. Er hinterließ keine Nachricht. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Was hätte er ihr auch sagen sollen?
Dann hörte er die Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter ab. Es gab nur eine, von Ouyang in Guangzhou:
»Schade, daß ich Sie heute nicht erreichen kann. Wenn Sie wüßten, wie ich unsere Lyrikdiskussionen beim Frühstückstee vermisse! Ich habe gerade zwei neue Bände erstanden. Das eine ist eine Sammlung von Li Shangyin-Gedichten.
Das andere sind Gedichte von Yan Rui. Mir gefällt besonders das eine, dessen Metaphorik unser großer Führer, der Vorsitzende Mao, verwendet hat:
Was gehen will, das geht. / Was bleiben will, das bleibt. / Schmück ich mein Haar mit den Blumen der Berge, / Dann frag mich nicht, wo mein Heim sein wird.«
Das war typisch Ouyang: Er vergaß nie, seine Rede mit lyrischen Zitaten zu schmücken. Chen hörte die Nachricht ein zweites Mal ab. Ouyang kannte Chens Vorlieben gut genug, um Li Shangyin zu erwähnen – aber warum Yan Rui? Das Gedicht hatte in den klassischen Anthologien hauptsächlich wegen einer damit verbundenen romantischen Geschichte überlebt. Die Dichterin war angeblich eine schöne Kurtisane, die in General Yue Zhong verhebt war. Sie wurde von Yues politischem Widersacher ins Gefängnis geworfen, doch weigerte sie sich standhaft, ihren Geliebten durch das Eingeständnis ihrer Beziehung zu belasten. Das Gedicht, so hieß es, künde von der Unbeugsamkeit ihres Geistes trotz allem Ungemach. Konnte das ein Hinweis auf Xie Rong sein, um Chen wissen zu lassen, daß sie ihn nicht belasten würde?
In einem irrte Ouyang natürlich. Zwischen Xie und Oberinspektor Chen war nie etwas gewesen. Aber Ouyangs Nachricht bestätigte die Information des Kleinen Zhou. Xie steckte in Schwierigkeiten – sie war in Untersuchungshaft. Aber nicht wegen ihres Massagebetriebs, sondern wegen Chen. Und die Drähte zog die Innere Sicherheit.
Konnte es sein, daß auch Ouyang sich in Schwierigkeiten befand? Wohl eher nicht. Immerhin war Ouyang noch in Freiheit und hatte genug Geld, um ein Ferngespräch zu tätigen, und genug innere Ruhe, um klassische Gedichte zu zitieren. Doch die Art, wie er seine Nachricht übermittelte, ließ darauf schließen, daß seine Lage schwierig war.
Oberinspektor Chen beschloß, Lu um einen Anruf bei Ouyang zu bitten; er sollte zur Sicherheit ein anderes Gedicht
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