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Qiu Xiaolong

Qiu Xiaolong

Titel: Qiu Xiaolong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tod einer roten Heldin
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Fenster, stützte die Wange in die Hand und nahm dann die Lektüre wieder auf.
    Manchmal wechselten sie freundliche Worte, manchmal auch genauso freundliche Blicke. Als sie ihm eines Morgens in rosa Bluse und weißem Rock entgegenkam, den Stapel der für ihn reservierten Bücher auf den bloßen Armen, sah er im Geist eine Pfirsichblüte aus einem weißen Papierfächer hervorlugen. Er machte sich sogar daran, einige Zeilen zu Papier zu bringen, aber die geräuschvolle Ankunft mehrerer halbwüchsiger Leser unterbrach ihn. In der folgenden Woche erschien zufällig ein Gedicht von ihm in einer bekannten Zeitschrift, und er reichte ihr die übliche Bücherliste, zusammen mit einem Exemplar dieser Zeitschrift. Sie errötete, als sie ihm dankte – das Gedicht schien ihr sehr zu gefallen. Als er die Bücher am späten Nachmittag zurückbrachte, erwähnte er zum Scherz das unvollendete Gedicht. Sie errötete wieder.
    Unbequem war auch, daß die Kantine im Nachbargebäude nur dem Bibliothekspersonal offenstand. Praktische, kleine, billige, privat geführte Restaurants oder Imbißbuden waren dazumal unbekannt. So behalf er sich damit, in seinem Rucksack gedünstete Bohnen in die Bibliothek zu schmuggeln. Eines Nachmittags kaute er im Innenhof auf einer kalten Bohne, als die Bibliothekarin an ihm vorbeiradelte. Am nächsten Morgen übergab sie ihm seine Bücher und machte dabei einen Vorschlag: Sie bot ihm an, ihn in die Personalkantine mitzunehmen, wo er sich in ihrer Begleitung ein Mittagessen kaufen konnte. Er nahm das Angebot gerne an. Das Essen war viel schmackhafter, und Zeit sparte er auch. Manchmal, wenn sie anderswo Versammlungen besuchen mußte, gelang es ihr, ihm eine Mahlzeit in ihrem eigenen Edelstahlgeschirr mitzubringen. Sie schien sehr privilegiert zu sein; denn niemand verlor ein Wort darüber.
    Einmal zeigte sie ihm sogar die Abteilung mit seltenen Büchern, die wegen Restaurierungsarbeiten geschlossen war. In den Raum war es staubig, aber es gab eine Fülle herrlicher Folianten. Einige lagen in kostbaren Tuchschatullen aus der Ming- oder Qing-Dynastie.
    Die meiste Zeit las er bis spätabends, und bald fügte es sich, daß er mit der jungen Frau zusammen die Bibliothek verließ. Die ersten paarmal sah es nach Zufall aus. Dann bemerkte er. daß sie am alten Torbogen des Bibliothekseingangs bei ihrem Fahrrad stand und auf ihn wartete.
    Zusammen pflegten sie dann in der Abenddämmerung durch das Labyrinth malerisch verwinkelter Gassen zu fahren.
    Sie passierten die alten schwarzweißen Häuser im sihe-Stil, die auf vier Seiten einen Innenhof umschließen, und den alten Mann, der Windräder aus farbigem Papier verkaufte; das Schrillen ihrer Fahrradklingeln durchschnitt die ruhige Luft, Taubengurren stieg zum klaren Pekinger Himmel auf. Schließlich kamen sie an die Kreuzung in Xisi, wo die Bibliothekarin ihr Fahrrad stehenließ und in die U-Bahn stieg.
    Sie redeten viel miteinander. Ihre Gesprächsthemen reichten von der Politik bis zur Lyrik, und sie entdeckten bemerkenswerte Übereinstimmungen in ihren Ansichten, nur daß die Bibliothekarin etwas pessimistischer war, was die Zukunft Chinas betraf. Chen führte diesen Unterschied auf ihre langen Arbeitsstunden in dem alten Bibliothekspalast zurück.
    Dann kam der bewußte Samstagnachmittag.
    Die Bibliothek machte früh zu. Sie beschlossen, noch nicht nach Hause zu gehen, sondern den Beihai-Park bei der Verbotenen Stadt zu besuchen. Dort mieteten sie ein Boot und ruderten auf den See hinaus. Es gab nur wenige andere Besucher.
    Die Bibliothekarin würde nach Australien gehen; diese Neuigkeit hatte sie Chen soeben mitgeteilt. Es war eine spezielle Vereinbarung zwischen der Pekinger Stadtbibliothek und der Bibliothek von Canberra. Sie sollte dort sechs Monate als Gastbibliothekarin arbeiten – in jenen Jahren eine seltene Chance.
    »Wir werden uns sechs Monate nicht sehen«, sagte sie und ließ das Ruder sinken.
    »Die Zeit fliegt«, sagte Chen. »Es ist doch nur ein halbes Jahr.«
    »Aber die Zeit kann leider vieles ändern.«
    »Nein, nicht unbedingt. Hast du einmal Qin Shaoyous ›Brücke der Elstern‹ gelesen? Das Gedicht beruht auf der Sage von der himmlischen Weberin und dem irdischen Kuhhirten.«
    »Ich habe von der Sage gehört, aber das ist schon sehr lange her.«
    »Die junge Weberin und der Kuhhirte verliebten sich ineinander. Das war aber gegen das Gesetz des Himmels – eine Verbindung zwischen dem Himmlischen und dem Weltlichen. Zur Strafe dürfen sie

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