Qiu Xiaolong
hatte sich gegenüber Minister Wen als seine Freundin ausgegeben, und jetzt war der Einfluß ihrer Familie mit im Spiel.
Der Sohn eines hohen Kaders gegen die Tochter eines hohen Kaders.
So mußte es für den Minister aussehen. Und für den Rest der Welt. Aber was mochte es für das Mädchen bedeuten? Eine Verpflichtung. Die Neuigkeit, daß sie einen Polizisten zum Geliebten hatte, würde sich in ihren Kreisen wie ein Lauffeuer ausbreiten.
Sie hatte ihm so viel gegeben – aber um welchen Preis?
Es mußte doch eine Unzahl junger Männer gegeben haben, die sie umschwärmten – ob um ihrer Familie oder um ihrer selbst willen, konnte niemand mit Sicherheit sagen.
Ein Bild stieg in ihm auf – eine Dame in altertümlichem Gewand auf einer Glückwunschkarte zum Laternenfest, die sie ihm geschickt und die er jahrelang aufgehoben hatte. Es war das Bild einer Frau, die einsam unter einer Weide stand. Dazu ein Gedicht von Zhu Shuzheng, einer hervorragenden Lyrikerin der Song-Dynastie:
Beim Laternenfest in diesem Jahr
Sind Laternen und Mond dieselben wie sonst.
Doch wo ist der Mann, den ich letztes Jahr sah?
Meine Frühlingsärmel sind tränengetränkt.
Ling hatte eine Glückwunschkarte aus Reispapier gewählt; die Wiedergabe des Gemäldes war ausgezeichnet, die Kalligraphie des Gedichtes elegant. Ohne selbst noch etwas auf die Karte zu schreiben, hatte Ling sie einfach an ihn adressiert und ihren Namen darunter gesetzt.
Er zwang sich, diesen Gedanken nicht weiterzuverfolgen. Was immer geschehen sein mochte oder vielleicht noch geschah, er war entschlossen, den Fall zu Ende zu bringen.
Als er endlich zu seinem Wohnhaus zurückkam, stand das Gebäude dunkel da.
Er hatte kaum je ein Wort mit einem seiner Nachbarn gewechselt, aber er wußte, daß in dem Haus jedes Apartment bewohnt war. So schloß er seine Tür so leise wie möglich auf.
Er lag auf seinem Bett und starrte an die Zimmerdecke.
35
DREI TAGE waren vergangen, seit Oberinspektor Chen die Arbeit in seinem Büro wiederaufgenommen hatte.
Parteisekretär Li hatte versprochen, sich mit ihm in Verbindung zu setzen, es aber bisher nicht getan. Li war ihm aus dem Weg gegangen, weil er Diskussionen über den Fall vermeiden wollte – das war Chen klar. Jeder Kontakt zwischen den beiden konnte überwacht werden; Parteisekretär Li war zu umsichtig, um das nicht in Betracht zu ziehen. Wann Hauptwachtmeister Yu von seinem »zeitweiligen« Einsatz zurück sein würde, war unbestimmt. Kommissar Zhang war noch die ganze Woche in Urlaub. Seine Gegenwart machte keinen Unterschied – seine Abwesenheit konnte etwas zu bedeuten haben.
Aus Peking nichts Neues. Eigentlich hatte Chen auch nicht damit gerechnet.
Er hätte den Brief an Ling nicht schreiben sollen. Und er würde keinen zweiten schreiben. Und die Telefonnummer, die sie ihm gegeben hatte, würde er auch nicht wählen. Im Augenblick mochte er nicht einmal daran denken.
Vielleicht war es klug zu warten, wie sie ihm empfohlen hatte, und nichts zu tun, bevor er ein »weiteres Zeichen« bekam. Es gab ja eigentlich auch nichts, was er tun konnte – wußte er doch, daß die Innere Sicherheit auf der Lauer lag und bereit war, zuzuschlagen, sobald er etwas unternahm. Auch gab es keine neue Entwicklung, außer daß er zu seiner Überraschung erfuhr, daß Wu Xiaoming ein Visum für die USA beantragt hatte.
Wieder einmal bekam er die Nachricht vom Überseechinesen Lu, der sie von Peiqin hatte, die sie vom Alten Jäger hatte, der sie durch seine Kontakte in Peking erfuhr. Wu beantragte kein geschäftliches, sondern ein privates Visum. Das war ungewöhnlich, wenn man berücksichtigte, daß Wus Name auf der Liste der Spitzenkandidaten für eine wichtige Position in China stand. Wenn Wu versuchte, sich abzusetzen, mußte Oberinspektor Chen rasch handeln. War Wu erst einmal im Ausland, konnte man ihn nicht mehr festnehmen.
Der weiße Lexus gehörte Wu; das hatte der Alte Jäger anhand des Kraftfahrzeugkennzeichens festgestellt. Zu den Dingen, die Chen in den letzten paar Tagen persönlich geklärt hatte, weil sie der Inneren Sicherheit nicht verdächtig vorkommen konnten, hatten Recherchen über das Dienstwagenreglement für hohe Kader gehört. Einem hohen Kader vom Range Wu Bings stand ein eigener Wagen samt einem jederzeit einsatzbereiten Fahrer zu, während die Familienangehörigen des Kaders nicht zur Benutzung des Wagens berechtigt waren. Wenn Wu Bing im Krankenhaus lag, war es nicht zu vertreten, daß seine
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