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Qiu Xiaolong

Qiu Xiaolong

Titel: Qiu Xiaolong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tod einer roten Heldin
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sich nur noch einmal im Jahr sehen, am siebenten Tag des siebenten Monats, wo sie sich auf der Brücke treffen, die mitleidige Elstern mit ihren Leibern über die Milchstraße bauen. Das Gedicht behandelt die Begegnung der zwei in dieser Nacht.«
    »Sag es mir bitte.«
    Und er rezitierte, sein Spiegelbild in ihren Augen erblickend: »Die mannigfachen Formen der Wolken, / Die fehlende Kunde der Sterne, / Die schweigende Reise über die Milchstraße, / Im goldenen Herbstwind, im jadegleichen Tau überstrahlt ihre Begegnung / Die zahllosen Begegnungen in der irdischen Welt. / Das Fühlen weich wie Wasser, / Die Zeit wesenlos wie ein Traum, / Wie bringt man es übers Herz, zurückzugehen über die Brücke der Elstern? / Wenn zwei Herzen für immer vereint sind, / Was zählt die Trennung – Tag um Tag, Nacht um Nacht?«
    »Phantastisch. Danke, daß du es für mich aufgesagt hast.«
    Mehr brauchten sie nicht zu sagen. Es gab ein stummes Einverständnis zwischen ihnen. Das Spiegelbild der Weißen Pagode glänzte im Wasser.
    »Es gibt noch etwas, was ich dir sagen muß«, meinte sie zögernd.
    »Und zwar?«
    »Es ist wegen meiner Familie …«
    Es stellte sich heraus, daß ihr Vater Mitglied des Politbüros beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei war und auf der Karriereleiter schnell nach oben stieg.
    Einen Augenblick war er sprachlos. Damit hatte er am wenigsten gerechnet.
    Über die Schultern des Mädchens blickend, sah Chen auf die roten Mauern der Verbotenen Stadt, die im Licht des Spätnachmittags glänzten. Jenseits der Beihai-Brücke erhob sich das Areal um den Mittleren und Südlichen See, wo eine Gruppe von Politbüromitgliedern wohnte. Auch der Vater der Bibliothekarin würde hier in Kürze einziehen, wie sie ihm gerade erzählt hatte.
    Ein solcher familiärer Hintergrund konnte in China enorm viel ausmachen.
    Was hatte er ihr schon zu bieten? Ein paar Gedichte. Romantisch genug für einen Samstagnachmittag. Aber nicht genug für das ganze Leben der Tochter eines Politbüromitglieds.
    Was immer sie im Augenblick in ihm sehen mochte, hier auf dem Beihai-See, er würde nicht der Richtige für sie sein – das stand für ihn fest.
    »Werden wir über unsere Zukunftspläne reden, bevor ich fahre?« fragte sie.
    »Ich weiß nicht«, sagte er. »Vielleicht – wenn du in einem halben Jahr zurück bist, werden wir uns wiedersehen – falls ich dann noch in Peking bin.«
    Hierauf erwiderte sie nichts.
    »Entschuldige«, setzte er hinzu, »aber ich wußte ja nichts über deine Familie.«
    Keine Zukunftspläne. Er sagte es nicht ausdrücklich, aber sie verstand. Er versprach, daß er mit ihr in Kontakt bleiben würde, aber auch das war nicht mehr als der Firnis über einem Bruch. Sie nahm seine Entscheidung widerspruchslos hin, so als habe sie sie erwartet. In ihren Augen schimmerte das Spiegelbild der Weißen Pagode im Licht der Nachmittagssonne.
    Das Mädchen hatte auch seinen Stolz.
    Danach waren ihm wieder Zweifel gekommen, aber sie hatte sich beeilt, sie zu zerstreuen. Niemand war schuld. Politik in China. Er mußte sich entscheiden.
    Nachdem er die Stelle in Shanghai bekommen hatte, war er überzeugt, daß es die richtige Entscheidung gewesen war. Der Aufenthalt der Bibliothekarin in Australien wurde auf ein Jahr verlängert. Eines Tages entdeckte er im Präsidium im untersten Fach des Postregals einen Brief von ihr; er enthielt einen Ausschnitt aus einer australischen Zeitung mit einem Foto von ihr und der Absage der Redaktion einer örtlichen Zeitschrift, die seine Gedichte nicht veröffentlichen wollte. Er war einer von den Namenlosen, ein Polizist des untersten Dienstgrades.
    Auch in China rechnete er aufgrund seiner sogenannten modernistischen Schreibweise mit keinem großen Erfolg.
    Dann kam im zweiten Jahr eine Neujahrskarte aus Peking, worin sie ihm mitteilte, daß sie aus Australien zurück war. Seit jenem Nachmittag im Beihai-Park hatten sie einander nicht gesehen. Aber eigentlich hatte sie ihn nie verlassen. Und er war nicht darüber hinweggekommen. War das der Grund, warum er ihr in jener Nacht geschrieben hatte, als er sich so ganz vernichtet fühlte?
    Es war das letzte, was er hatte tun wollen – sie um Hilfe bitten. Auf dem Hauptpostamt hatte er sich eingeredet, er schreibe ihr den Brief im Namen der Gerechtigkeit.
    Sie mußte bemerkt haben, wie verzweifelt seine Lage war. Sie hatte große Mühen auf sich genommen und das ganze Gewicht ihrer Familie für ihn in die Waagschale geworfen. Sie

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