Qiu Xiaolong
deshalb auch nie soviel Glück haben, jedenfalls nicht soviel wie Oberinspektor Chen. Sein Glück reichte gerade so weit, um im Bus einen Fensterplatz zu ergattern.
Der Hauptwachtmeister Yu war einige Jahre vor Chen zur Polizei gekommen und hatte bereits mehrere Fälle gelöst. Dennoch träumte er nicht einmal davon, es je zum Oberinspektor zu bringen. Abteilungsleiter – ja, das wäre noch vorstellbar gewesen, aber auch diese Position war ihm nicht vergönnt. In der Spezialabteilung war er nur der Assistent von Oberinspektor Chen.
Daß Chen aufgrund seiner Ausbildung befördert worden war, war einzig und allein der Politik zu verdanken. In den sechziger Jahren galt man als politisch um so unzuverlässiger, je gebildeter man war; jedenfalls entsprach dies der Logik des Vorsitzenden Mao, der davon ausging, daß man dann um so stärker westlichen Ideen und Ideologien ausgesetzt sei. Mitte der Achtziger hatten sich unter dem Vorsitz des Genossen Deng die Auswahlkriterien für die Kader geändert. Das war zwar sinnvoll, doch nicht unbedingt im Polizeipräsidium und nicht unbedingt im Fall von Oberinspektor Chen. Aber Chen hatte nun einmal den Posten und auch die Wohnung erhalten.
Allerdings mußte Yu zugeben, daß Chen zwar ein eher unerfahrener, dafür aber ein ehrlicher und gewissenhafter Polizist war, ein intelligenter, umgänglicher Mann, der seine Arbeit sehr ernst nahm. Das hieß für einen Polizisten schon eine ganze Menge. Es hatte Yu ziemlich beeindruckt, daß Chen am Vortag die geheiligten Vorbilder kritisiert hatte.
Er beschloß, sich nach Möglichkeit mit Chen zu vertragen.
Die Luft im Bus wurde immer stickiger. Als er aus dem Fenster blickte, wurde ihm klar, daß er mit seinem Selbstmitleid eine trübselige Nummer abgab. Als der Bus an der Xizang Nanlu angekommen war, drängte er sich als erster aus dem Bus und nahm eine Abkürzung durch den Volkspark. Eines der Parktore führte direkt auf die Nanjing Lu, Shanghais größte Durchgangsstraße, die ein einziges riesiges Einkaufszentrum ist und vom Bund bis zum Jing’an-Tempel führt. Die Passanten – Käufer, Touristen, Straßenhändler, Kuriere – waren bestens gelaunt. Vor dem Hotel Helen brachte eine Gesangsgruppe ein Ständchen, ein junges Mädchen in ihrer Mitte spielte auf einer alten Zither. Ein großes Plakat ermahnte die Bewohner Shanghais, auf die Hygiene zu achten und die Umwelt zu schützen, also keinen Müll wegzuwerfen und nicht auf den Boden zu spucken. An den Kreuzungen lenkten pensionierte Arbeiter mit roten Fahnen den Verkehr und tadelten die Verkehrssünder. Die Sonne war aufgegangen und spiegelte sich in den zerkratzten Spucknäpfen, die entlang der Gehsteige aufgestellt waren.
Der Hauptwachtmeister Yu fühlte sich all diesen Leuten verbunden und kam sich zugleich wie ihr Beschützer vor. Allerdings mußte er zugeben, daß das eher Wunschdenken war.
Das Kaufhaus Nr. 1 lag in der Mitte der Nanjing Lu gegenüber dem Volkspark an der Ecke Xizang Zhonglu. Wie immer herrschte in dem Kaufhaus viel Betrieb; nicht nur Einheimische, sondern auch Besucher aus anderen Städten kauften hier gerne ein. Yu bahnte sich seinen Weg durch die Menge am Eingang. Die Kosmetikabteilung befand sich im ersten Stock. Er lehnte sich an eine Säule, die in der Nähe stand, und beobachtete eine Weile das Geschehen. Um die Theken drängten sich die Leute. Großaufnahmen wunderschöner Mannequins, deren Körpersprache in dem hellen Licht um so verlockender wirkte, begrüßten die jugendliche Kundschaft. Die jungen Verkäuferinnen demonstrierten die Anwendung der unterschiedlichsten Kosmetika. Auch sie wirkten in ihren grün-weiß gestreiften Uniformen, unablässig umspielt von den hellen Neonlampen, recht attraktiv.
Yu fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock zum Büro des Kaufhausdirektors Xiao Chi. Dieser begrüßte ihn in einem großen Raum, an dessen Wänden eine stattliche Sammlung von Auszeichnungen und goldgerahmten Bildern hing. Eines der Fotos zeigte auch Guan, wie sie auf der zehnten Konferenz des Zentralkomitees der Partei die Hand des Genossen Deng Xiaoping schüttelte.
»Genossin Guan war ein wichtiger Kader unseres Kaufhauses. Ein loyales Parteimitglied«, sagte Xiao. »Ihr tragischer Tod ist ein großer Verlust für die Partei. Wir werden alles nur Mögliche tun, um Ihnen bei Ihren Ermittlungen zu helfen.«
»Danke, Genosse Direktor«, sagte Yu. »Vielleicht beginnen Sie einfach damit, mir zu berichten, was Sie über ihre Arbeit
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