Qiu Xiaolong
wissen.«
»Sie war die Leiterin der Kosmetikabteilung. Sie hat seit zwölf Jahren hier gearbeitet. Sie arbeitete sehr gewissenhaft, besuchte jede Parteiversammlung und half anderen, wo immer sie konnte. Vorbildlich in allen Lebensbereichen, hat sie zum Beispiel letztes Jahr dreihundert Yuan für die Opfer der Jiangsu-Überschwemmung gespendet. Den Aufrufen der Regierung folgend hat sie auch jedes Jahr eine Menge Staatsanleihen gezeichnet.«
»Was hielten denn die Kollegen von ihrer Arbeit?«
»Sie war sehr tüchtig. Eine kompetente, methodische, höchst gewissenhafte Leiterin. Ihre Kolleginnen schätzten ihre Arbeit sehr.«
»Also eine richtige Modellarbeiterin«, sagte Yu. Er wußte, daß fast alles, was ihm Direktor Xiao gesagt hatte, so auch in Guans offizieller Akte gestanden hätte. »Aber jetzt muß ich Ihnen noch ein paar andere Fragen stellen.«
»Nur zu, fragen Sie, was immer Sie wollen.«
»War sie bei ihren Kollegen beliebt?«
»Ich glaube schon, aber das müssen Sie die Leute selbst fragen. Ich wüßte nicht, was dagegen spräche.«
»Ihres Wissens hatte Guan also keine Feinde unter den Kolleginnen?«
»Feinde? Lieber Genosse Hauptwachtmeister Yu, das ist ein starkes Wort. Vielleicht gab es einige Leute, die sie nicht besonders mochten, aber das geht wohl jedem so. Ihnen doch vermutlich auch, oder? Aber Sie laufen deshalb nicht mit der Angst herum, ermordet zu werden, stimmt’s? Nein, ich würde nicht sagen, daß sie Feinde hatte.«
»Und was wissen Sie über die Menschen, mit denen sie privat verkehrte?«
»Darüber weiß ich gar nichts«, sagte der Direktor und strich sich langsam mit dem Mittelfinger über die linke Braue. »Sie war eine junge Frau, mit mir hat sie sich nie über ihr Privatleben unterhalten. Wir sprachen über die Arbeit, sonst über gar nichts. Sie nahm ihre Führungsposition und auch ihre Stellung als Modellarbeiterin sehr ernst. Tut mir leid, aber da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«
»Hatte sie denn viele Freunde?«
»Na ja, hier im Kaufhaus wohl nicht. Wahrscheinlich hatte sie dafür einfach keine Zeit, bei all den Parteiaktivitäten und Versammlungen.«
»Hat sie mit Ihnen über ihren Urlaub gesprochen?«
»Nein. Und das war auch gar nicht nötig, denn es handelte sich nur um einen Kurzurlaub. Ich habe mich schon bei einigen ihrer Kolleginnen danach erkundigt, aber auch mit ihnen hat sie nicht darüber geredet.«
Hauptwachtmeister Yu fand, daß es nun an der Zeit wäre, die anderen Angestellten zu befragen. Eine Liste mit den Namen der dafür in Frage kommenden Personen war bereits vorbereitet worden.
»Sie werden Ihnen sicher alles sagen, was sie wissen. Geben Sie mir bitte Bescheid, wenn ich noch etwas für Sie tun kann«, sagte Xiao beflissen.
Die Befragungen sollten in einem Konferenzsaal stattfinden, der Hunderten von Leuten Platz geboten hätte. Die Kauf-hausangestellten warteten in einem Nebenraum, der durch eine Glastür vom Hauptraum abgetrennt war. Hauptwachtmeister Yu wollte jeden einzeln befragen. Pan Xiaoxia, eine gute Freundin Guans, war die erste auf seiner Liste. Ihren geschwollenen Augen entnahm Yu, daß sie während des Wartens geweint hatte.
»Es ist so schrecklich«, sagte sie gedrückt, nahm ihre Brille ab und betupfte sich die Augen mit einem Seidentaschentuch. »Ich kann einfach nicht glauben, daß Guan tot ist. Ich meine – sie war so ein herausragendes Parteimitglied. Und an ihrem letzten Tag hier im Kaufhaus hatte ich zufällig frei …«
»Ich kann Sie verstehen, Genossin Pan«. sagte er. »Wie ich hörte, waren Sie eng mit ihr befreundet.«
»Ja, wir haben jahrelang zusammengearbeitet – sechs Jahre insgesamt.« Sie wischte sich abermals die Augen und schniefte laut, als wollte sie damit die Echtheit ihrer Freundschaft bezeugen. »Ich arbeite seit zehn Jahren hier, aber angefangen habe ich in der Spielzeugabteilung.«
Als Yu auf Guans Privatleben zu sprechen kam, gab Pan zögernd zu, daß die Verstorbene und sie doch nicht so eng befreundet gewesen waren. In all den Jahren hatte sie Guan nur ein einziges Mal zu Hause besucht. Eigentlich hatten sie nur ab und zu in der Mittagspause einen Schaufensterbummel unternommen und die Preise verglichen, gelegentlich hatten sie auch in Shengs Restaurant auf der gegenüberliegenden Straßenseite gemeinsam Nudeln mit Rindfleisch gegessen – mehr nicht.
»Haben Sie denn manchmal mit ihr über ihr Privatleben gesprochen?«
»Nein, nie.«
»Tatsächlich? Ich dachte, Sie seien gute
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