Qiu Xiaolong
für Yu einsetzte und argumentierte, es sei normal, daß es über einen Fall verschiedene Ansichten gebe; darin spiegele sich die Demokratie der Partei wider, und dieser Sachverhalt tue dem Wert eines fähigen Polizeibeamten keinen Abbruch. »Wenn jemand mit dem Verlauf der Ermittlungen nicht zufrieden ist«, hatte Chen geschlossen, »bin ich derjenige, der dafür die Verantwortung übernehmen muß. Entlassen Sie mich.« Es war nur Chens bewegtem Plädoyer zu verdanken, daß Yu in der Spezialabteilung blieb.
Yu war von Laos Schilderung überrascht, da er von seinem Vorgesetzten eine derartig starke Unterstützung nicht erwartet hätte.
»Dein Oberinspektor weiß, wie man die Sprache der Partei spricht«, sagte Peiqin ruhig.
»]a, das tut er. Diesmal zu meinem Glück«, sagte er.
»Wie wäre es, wenn wir ihn zum Abendessen einladen? Das Restaurant bekommt zwei Scheffel lebende Krebse aus dem Yangchen-See, zu staatlichen Preisen. Ich kann ein Dutzend mitbringen, und dann muß ich nur noch ein paar Beilagen machen.«
»Das ist eine gute Idee. Aber es wird zuviel Arbeit für dich sein.«
»Nein. Es macht Spaß, ab und zu einen Gast zu haben. Ich werde ein Essen kochen, das dein Oberinspektor nicht vergessen wird.«
Zu Yus Überraschung nahm Chen seine Einladung bereitwillig an und fügte hinzu, daß er nach dem Essen mit Yu gern etwas besprechen würde.
Es war aber doch wirklich zuviel Arbeit für Peiqin, dachte Yu düster, während er da stand und zusah, wie sie sich in dem kleinen Raum abrackerte. In ihrem Teil der Gemeinschaftsküche gab es lediglich einen Kohleofen, einen kleinen Tisch und einen provisorischen Bambusschrank, der an der Wand aufgehängt war. Sie hatte kaum Platz genug, um die ganzen Schalen und Teller abzustellen.
»Geh in unser Zimmer«, wiederholte sie. »Steh nicht da und sieh mir zu.«
Der schon für das Abendessen gedeckte Tisch sah beeindruckend aus. Darauf waren Eßstäbchen, Löffel und kleine Teller mit gefalteten Papierservietten angeordnet. In der Mitte befanden sich ein kleiner Messinghammer und eine mit Wasser gefüllte Glasschüssel. Der Tisch war aber kein richtiger Eßtisch, denn auf ihm nähte Peiqin auch die Kleider für die Familie, Qinqin machte dort seine Hausaufgaben, und Yu studierte seine Ermittlungsakten.
Yu machte sich eine Tasse grünen Tee, setzte sich auf die Sofalehne und nahm einen kleinen Schluck.
Sie lebten in einem alten, zweigeschossigen Shikumen-Haus, einem Architekturstil, der Anfang der dreißiger Jahre populär war. Damals waren solche Häuser für eine Familie gebaut worden. Heute, sechzig Jahre später, wohnten darin ein Dutzend Familien, und alle Zimmer waren unterteilt, damit immer mehr Menschen darin unterkamen. Gleich geblieben war nur die schwarzgestrichene Eingangstür, die auf einen kleinen Hof führte, der mit allem möglichen Abfall übersät war, eine Art Gemeinschaftsmüllhalde; von hier ging es zu einer Halle mit hoher Decke, von der die Ost- und Westflügel abgingen. Diese einst geräumige Halle fungierte seit langem als Gemeinschaftsküche und Lagerplatz. Die beiden Reihen von Kohleöfen mit den gestapelten Briketts waren ein Hinweis darauf, daß im Erdgeschoß sieben Familien wohnten.
Yus Zimmer befand sich am südlichen Ende des Ostflügels im Erdgeschoß. Anfang der fünfziger Jahre hatte man dem Alten Jäger den Flügel mit dem Luxus eines eigenen Gästezimmers zugewiesen. Heute, in den neunziger Jahren, beherbergten die vier Zimmer nicht weniger als vier Familien: den Alten Jäger und seine Frau; seine beiden Töchter, eine davon verheiratet, mit Mann und Tochter; die andere war fünfunddreißig und noch ledig; und seinen Sohn, Hauptwachtmeister Yu, der dort mit Peiqin und Qinqin wohnte. Jedes Zimmer war also gleichzeitig Schlafzimmer, Eßzimmer, Wohnzimmer und Badezimmer.
Yus Zimmer war ursprünglich das Eßzimmer gewesen und maß ungefähr elf Quadratmeter. Es war nicht ideal, weil die Nordwand nur ein Fenster hatte, nicht größer als eine Papierlaterne. Als Allzweckzimmer war es noch weniger zu gebrauchen und für Besuche gänzlich ungeeignet, weil das angrenzende Zimmer, das ursprünglich das Wohnzimmer gewesen war und dessen Tür auf die Halle hinausging, das des Alten Jägers war. Ein Besucher mußte also zuerst durch das Zimmer des Alten Jägers gehen. Deshalb hatten die Yus nur selten Gäste.
Chen kam um halb sieben und trug in der Hand ein kleines Gefäß mit zähflüssigem Shaoxing-Reiswein »Jungfrauenrot«. Der
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