Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
Prinzen.
»Rafael ...« rief Phaedra flehend
und ergriff den Arm ihres Bruders.
Er entzog sich ihr brüsk und
richtete seinen kalten Blick auf Annie. Ohne ihn von ihr abzuwenden, sagte er
zu dem Soldaten neben sich: »Bring Miss Trevarren in ihr Zimmer und verschließ
die Tür! Ich werde mich morgen früh mit ihr beschäftigen. Im Moment traue ich
es mir nicht zu.«
Annie war durchnäßt, verfroren und
voller Reue, aber seine Worte lösten Entrüstung in ihr aus, und sein Ton verletzte
sie. »Warum kettet Ihr mich nicht einfach an die Wand eines Verlieses und laßt
es damit gut sein?« erkundigte sie sich mit Würde.
»Ein reizender Vorschlag«, versetzte
Rafael bissig. »Glauben Sie nicht, ich hätte ihn nicht bereits erwogen. Haben
Sie noch mehr solche Ideen, Miss Trevarren? Noch drastischere, hoffe ich?«
Sie ließ einen Moment den Kopf
hängen, weil ihr bewußt war, daß Frechheit sie jetzt nicht weiterbrachte, doch
dann erwiderte sie Rafaels kalten Blick und fragte sich, was sie je in ihm
gesehen hatte — obwohl ihr selbst in diesem entwürdigenden Augenblick klar
war, was. Er war stark, sah phantastisch aus und war gut, und sie
vermochte nicht einmal an ihn zu denken, ohne einen Stich im Herzen zu ver
spüren und ein sehr viel weniger prosaisches Gefühl woanders ...
»Nein«, gab sie zu. »Das ist alles,
was mir dazu einfällt.«
Erst jetzt gab der Prinz ihren Arm
frei. Mr. Barrett begann weiterzugehen, gefolgt von Lucian, der sich mehrmals
nach ihr umsah. Doch Rafael blieb, ragte auf dem düsteren Korridor vor Annie
auf wie ein Gespenst.
Phaedra, als treue Freundin, die sie
war, blieb ebenfalls.
»Bilden Sie sich nicht ein, daß ich
diesen Zwischenfall vergessen werde, Miss Trevarren«, sagte Rafael und beugte
sich vor, bis seine aristokratische Nase fast Annies kecke, sommersprossenbedeckte
Nase berührte. »Aber wir werden, wie ich bereits sagte, die Angelegenheit
morgen früh besprechen.«
Der Prinz hatte beabsichtigt, Annie
einzuschüchtern, und das war ihm auch gelungen, aber sie war zu stolz, es sich
ihm gegenüber anmerken zu lassen. Sie straffte die Schultern, hob das Kinn und
weigerte sich, den Blick zu senken.
Rafael schüttelte den dunklen Kopf,
murmelte etwas, das zum Glück für alle unverständlich blieb, und ging mit
raschem Schritt davon.
Phaedra schob ihren Arm unter Annies
und flüsterte bestürzt: »Hast du den Verstand verloren?«
Annie wußte nicht, ob ihre Freundin
sich auf die Episode auf dem Wehrgang bezog oder auf den kurzen Wortwechsel mit
Rafael. Sie war zutiefst betrübt, ließ jetzt, wo der Prinz nicht mehr anwesend
war, die Schultern hängen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Was hatte
sie sich nur dabei gedacht, soviel aufs Spiel zu setzen für einen lächerlichen
Ausblick auf die Landschaft?
Die beiden Mädchen waren schon auf
dem Weg zu ihren Schlafgemächern im westlichen Teil der Burg, bevor Annie
antwortete. »Ich weiß selbst nicht, was mich manchmal überkommt«, gestand sie
kläglich. »Ich komme auf Ideen — wie das unwiderstehliche Bedürfnis, plötzlich
irgendwo hinaufzuklettern. Anfangs erschien mir der Gedanke noch ganz harmlos,
wirklich, und der See war auch wunderschön, blau wie Lapislazuli, sogar im
aufkommenden Regen.« Annie hielt inne, um zu niesen, und Phaedra murmelte etwas
und beschleunigte ihren Schritt, was auch Annie zu schnellerem Gehen zwang.
»Bäume, Regenrinnen, die Takelage meines Vaters Schiffs ...« fuhr der
ungezogene Hausgast fort, »ich habe sie alle schon bestiegen. Es gibt Momente,
Phaedra, in denen ich die Welt einfach aus einer anderen Perspektive sehen
muß!«
Annie war neun Jahre alt gewesen,
als sie beschlossen hatte, sich ihre Umgebung vom Ausguck der Enchantress anzusehen,
was ihr die ersten und einzigen Prügel ihres Lebens eingetragen hatte, nachdem
ihr Vater sie aus der Takelage befreit hatte. Selbst ihre Mutter Charlotte, die
sie sonst in allem unterstützte, hatte keine Einwände erhoben, was bedeutete,
daß es tatsächlich eine Riesendummheit gewesen sein mußte. Annie war jedoch zu
stolz, um Phaedra diese Erfahrung anzuvertrauen.
Die Prinzessin, die selbst ein
rechter Wildfang war, schüttelte in überlegener Weise ihren Kopf. »Was soll
nur aus dir werden, Annie?« fragte sie. »Sieh dich an — du kleidest dich wie
ein Junge und kletterst aus Fenstern wie ein Affe! Wie willst du jemals einen
Mann finden und heiraten, wenn du dich aufführst wie eine Wilde?«
Zu Annies unendlicher
Weitere Kostenlose Bücher