Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
und der war ihm nun auch noch genommen worden.
Rafael hörte einen Schuß und sank
augenblicklich in die Knie, in der festen Überzeugung, daß er getroffen worden
war. Bevor er Annie jedoch zurufen konnte zu fliehen, merkte er, daß das Seil,
das ihn gehalten hatte, durchschossen worden war. Ein heftiger Aufruhr
entstand, und das noch grüne Holz des Schafotts knirschte, als sich noch mehr
Kugeln hineingruben.
Er schrie gellend Annies Namen und
stürzte dann nach vorn auf sein Gesicht, durch einen Schlag auf seinen Hinterkopf
in tiefste Bewußtlosigkeit versetzt.
»Lauf, du kleine Närrin!« brüllte der
Priester, der sich gebückt hatte, um Rafaels reglosen Körper über seine mächtige
Schulter zu werfen.
Annie, die endlich den ersten Maat
ihres Vaters in ihm erkannte hatte, gehorchte und rannte die Stufen des Schafotts
hinab. Doch unten stieß sie auf Josiah Vaughn, der ihr mit grimmiger Miene und
gezogenem Schwert den Weg vertrat.
Überall herrschte Chaos, denn einige
von Rafaels Männern hatten ihre Waffen aufgenommen, um bei der Rettungsaktion
zu helfen, und Annie war sehr wohl bewußt, daß ihnen nur wenige Minuten Zeit
für ihre Flucht zur Verfügung standen.
»Nur zu, Josiah«, sagte sie.
»Durchbohr mich ruhig mit deinem Schwert.«
Er starrte sie einen endlosen,
gespannten Moment lang an, während der Priester hinter ihr stand und durch die
Last, die er trug, machtlos war, zu helfen. Dann, endlich, machte Josiah
widerstrebend Platz.
Plötzlich waren sie umringt von
Pferden, und Annie wurde
grob auf den Rücken eines Tieres gezerrt. Sie war zu benommen, um viel zu
sehen, aber sie bemerkte Mr. Barrett in der Nähe und hörte an ihrem Ohr die
Stimme ihres Vaters. »Dafür wirst du mir eine Erklärung geben, Annie!«
Es kümmerte sie nicht. »Rafael!«
schrie sie und zappelte im Sattel, um sich nach ihm umzusehen.
Patricks Arm verstärkte seinen Druck
um sie, und das Pferd galoppierte auf das Burgtor zu, wo das Fallgitter bereits
hochgezogen war. »Er ist hinter uns, Liebes«, sagte er, und dann peitschte
ihnen der Wind ins Gesicht, und die Hufe der Pferde donnerten in einem
ohrenbetäubenden Geklapper über die Zugbrücke. Es erklangen auch noch Schüsse,
überall, aber das lauteste Geräusch von allen war das Dröhnen von Annies
eigenem Herz.
Sechs kleine Boote erwarteten sie in
Strandnähe. Patrick ritt geradewegs in die Brandung und hob Annie in eins der
Boote, bevor er absaß und selbst einstieg. Sie sah, wie Rafael - tot oder
bewußtlos - in ein anderes Boot geworfen wurde, in dem schon Mr. Barrett saß, die
Ruder in der Hand, und versuchte vergeblich, zu ihrem Gatten zu gelangen. Die
erfahrene Besatzung der Enchantress brachte die Boote in perfekter
Zusammenarbeit in Bewegung, und die Kugeln der verfolgenden Rebellen trafen nur
noch die aufgewühlten Wellen hinter ihnen.
Erst als sie das wartende Schiff
erreicht hatten und Strickleitern hinuntergelassen wurden, löste Annie ihren
Blick von Rafael, um sich nach St. James umzuschauen.
Es erhob sich vor dem Himmel wie ein
majestätisches Grabmal, ein passendes Monument der alten Lebensweisen, und
Annie weinte Tränen der Trauer und Erleichterung.
»Zeit, Abschied zu nehmen«, sagte
Patrick sanft und hob sie auf die erste Sprosse einer der Strickleitern.
Annie schaute sich nach Rafael um,
sah, daß er sicher war, und begann zu klettern.
Südfrankreich, sechs Wochen später ...
Komplett genesen fast, wenn auch
noch immer hager von seinen Prüfungen in Bavia, beobachtete Rafael den Sonnenuntergang
über den Weinbergen. Annie stand an seiner Seite, ihren Arm in seinem, und hinter
ihnen ragte das riesige Gutshaus aus roten Backsteinen auf, das von nun an ihr
Zuhause sein würde. Das Haus gehörte Rafael seit Jahren, obwohl er es noch nie
zuvor besucht hatte, bevor er einen Monat zuvor seine Braut hierhergebracht
hatte.
»Wirst du hier glücklich sein?«
fragte Annie, obwohl sie die Antwort bereits kannte. »Als Winzer?«
Er lächelte auf sie herab, drückte
ihren Arm an seinen Körper und schloß seine Finger um ihre. »Wirst du glücklich
sein als Frau eines Winzers?«
»Ja«, antwortete Annie. »Ich brauche
dazu nichts als den Winzer.«
Rafael lachte und küßte ihre Stirn,
aber eine gewisse Trauer blieb auch jetzt in seinen Augen. Hinter den Weinbergen
und dem niedrigen Steingebäude, in dem sich die Pressen und Fässer befanden,
und weit hinter dem Horizont lag Bavia, geschlagen und aus allen Wunden
blutend. Es würde eine lange Zeit
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