Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
die Eistüten über die Straße verkauften, und natürlich die Spielzeuggeschäfte.
Das dritte Mal war er den Weg gegangen, weil er nach einigem Nachdenken in der Bar
am Fuße der Accademia-Brücke auch noch die Masken- und Karnevalskostümgeschäfte
miteinbezog. Er beschloss, in den folgenden Tagen nach und nach alle diese Geschäfte
abzuklappern. Dabei fiel ihm ein, dass er kein brauchbares Bild des Knaben hatte.
Im Zuge ihres Streits hatte die Familie glatt vergessen, ihm eines mitzugeben. Am
Nachmittag machte er dann seine übliche Fremdenführer-Tour rund um San Marco. Nun
saß er in Marcellos Osteria und war geschafft. Im Gegensatz zu seinen sonstigen
Gewohnheiten trank er Bier. Er fühlte sich förmlich ausgedörrt. Als er Luciana von
seinem anstrengenden Tag erzählte und diese ihn für seine Tagesgage von 300 Euro
bewundert hatte, läutete sein Handy. Es war Philipp Mühleis.
»Herr Mühleis,
guten Abend, was kann ich für Sie tun?«
»Wie steht
es mit Ihren Ermittlungen?«
»Mühsam,
aber gut. Ich bin heute dreimal den Weg von der Accademia nach San Polo samt allen
Nebengassen abgegangen. Ich habe alle Geschäfte notiert, die die Aufmerksamkeit
Ihres Sohns erregt haben könnten. Sie werde ich in den kommenden Tagen alle abklappern
und jemanden suchen, der sich an Johannes erinnern kann. Zu diesem Zweck brauche
ich übrigens ein aktuelles Foto von Johannes.«
»Kein Problem.
Sie bekommen es morgen von mir.«
»Wann und
wo?«
»Eine Bitte:
Dürfte ich mit Ihnen mitgehen?«
Lupino war
verblüfft. Warum wollte Philipp Mühleis sich das antun? Die Antwort bekam er umgehend:
»Wir haben
morgen drehfrei, und ich halte es daheim bei meiner Frau und meinen Eltern nicht
aus.«
Lupino grinste,
vereinbarte mit ihm einen Treffpunkt am Campo San Polo und legte auf. Dann erzählte
er Luciana, die kein Wort der auf Deutsch geführten Konversation verstanden hatte,
den Inhalt des Telefonats. Sie tätschelte ihm die Wange und murmelte:
»Bravo
Lupino. Bravissimo.«
Als wenig
später dann die ersten Abendnachrichten über den kleinen TV-Schirm oberhalb der
Bar flimmerten, versteinerte sich ihre Miene plötzlich. Mit der Fernbedienung drehte
sie den Ton lauter. Und als die anderen Gäste die hektisch gesprochenen News der
TV-Reporterin vernahmen, wurde es totenstill in der Osteria. Wieder war eine nackte
Knabenleiche gefunden worden. Das ermordete Kind hieß Andrea Ponti, und die TV-Reporterin
bezeichnete den Täter als Jack the Ripper von Venedig. Eine Formulierung, bei der
die Anwesenden Gänsehaut bekamen.
Elf
Sein Handy läutete, Ranieri war
dran. Er erkundigte sich, ob Philipp Mühleis sich gemeldet habe. Und ob er mit seinen
Ermittlungen schon begonnen habe.
»Seit wann
interessierst du dich für meine Arbeit?«
Lupino stand
gerade in dem Geschäft eines Maskenherstellers und ärgerte sich über die junge Verkäuferin.
Desinteressiert kaute sie an einem Kaugummi und sah sich das Bild des ermordeten
Knaben gelangweilt an. Ihre Aussagen schwankten zwischen ja, vielleicht, vielleicht
auch nicht, bis hin zu ich weiß nicht. Mühleis, der neben ihm stand, war fassungslos.
Und jetzt rief auch noch Ranieri an. Als dieser merkte, dass sein Anruf ungelegen
kam, lud er Lupino auf das beste Bier von ganz Venedig ein.
»Und wo
soll es das geben?«
»Fondamenta
Zattere ai Gesuiti. In der Gelateria und Bar dort. Heute Nachmittag um fünf Uhr. Du bist
mein Gast. Ciao, Wölfchen.«
Bevor Lupino
ihm eine Gemeinheit erwidern konnte, hatte der Kommissar schon aufgelegt. Lupino
wandte sich wieder der jungen Verkäuferin zu und fragte sie, wie oft sie denn in
der Woche hier arbeite. Diese verdrehte die Augen und antwortete, dass sie hier
eigentlich gar nicht arbeite, sondern nur ein paar Tage lang aushelfe, da ihre Tante
eine Sommergrippe habe. Lupino übersetzte Philipp Mühleis diese Auskunft. Der bekam
einen roten Kopf und brüllte:
»Scheiße!«
Lupino schob
ihn aus dem Geschäft hinaus und bat ihn, sich zu beruhigen. Dann ging er noch einmal
zu der Verkäuferin und bat sie unter Zuhilfenahme seines Charmes um die Telefonnummer
ihrer Tante. Die gab sie ihm nicht, wählte deren Nummer aber auf ihrem Handy. Als
die Tante abhob, erklärte sie ihr kurz den Sachverhalt und überreichte dann Lupino
das Handy. Dieser appellierte an das Mitgefühl der Signora. Das half, und sie willigte
ein, dass er kurz mit dem Bild des toten Buben bei ihr vorbeischauen könne. Sie
habe ein gutes Personengedächtnis, und wenn der Bub
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