Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
tatsächlich in ihrem Geschäft
gewesen war, würde sie sich an ihn erinnern. Lupino bedankte sich, verließ das Geschäft
und suchte mit Philipp Mühleis die Signora auf. Zur Überraschung der beiden erinnerte
sie sich an Johannes. Und zwar, wie er vor circa einem Monat mit seiner Großmutter
bei ihr im Geschäft war. Der Bub hatte sich eine weiße, schnabelförmige Maske ausgesucht.
Als Philipp Mühleis das hörte, fing er hemmungslos zu weinen an. Die Signora, die
stark verschnupft war, tätschelte ihm voll Mitleid den Oberarm und murmelte, einen
Niesanfall unterdrückend:
»Mi
dispiace … mi dispiace. Povero padre … [11] «
Als Lupino zu der Gelateria am Fondamenta
Zattere ai Gesuiti kam, glitt gerade ein riesiges Kreuzfahrtschiff durch den Kanal
von Giudecca. Es wirkte wie ein Wolkenkratzer neben den bei Weitem nicht so hohen
historischen Gebäuden des Dorsoduro. Lupino nahm auf der ins Wasser vorgebauten
Terrasse der Gelateria Platz und genoss das Schauspiel. Als das Schiff vorbeigefahren
war, ließ er den Blick über die breite Wasserstraße streifen und dachte sich: Eigentlich
ist das kein Kanal, sondern ein Stück offenes Meer. Und die Insel Giudecca vis-à-vis
wirkte wie die Küste eines fernen Landes. Da Ranieri nicht pünktlich und er selbst
ziemlich müde war, bestellte er sich einen Espresso doppio und beobachtete den regen
Schiffsverkehr. Das entspannte ihn so sehr, dass er einnickte.
»Schau an:
Der böse Wolf ist müde geworden.«
Lupino war
mit einem Schlag wach. Verdammt! Gerade vor Ranieri wollte er sich keine Blöße geben.
»Ludwig,
fick dich«, knurrte er. Ranieri antwortete lachend:
»Hat mein
kleiner Scherz dich verletzt? Mensch, dat tut mir leid.«
Ranieri
bestellte zwei Flaschen Birra Dolomiti, und Lupino musste ihm recht geben, dass
dieses Bier wirklich ganz ausgezeichnet schmeckte. Ranieri erzählte ihm bei einigen
weiteren Bieren, dass sie mit den Ermittlungen nicht vorankamen. Er und seine Leute
hatten alle, die sich auch nur das kleinste Sexualdelikt hatten zuschulden kommen
lassen, überprüft. Weiters waren sie unzähligen Hinweisen aus der Bevölkerung nachgegangen.
Ein Spezialist für Kinderpornografie des Innenministeriums in Rom war auf Anordnung
des Vicequestore zusätzlich in die Ermittlungen eingebunden worden. All das hatte
nichts gebracht und ließ für ihn nur den Schluss zu, dass dieser Verrückte wahrscheinlich
ein Fremder sei. Ein Einzeltäter, der nach Venedig gekommen war und hier seine perversen
Neigungen auslebte. Die Überprüfung der Fremden, die sich in den letzten Monaten
in Venedig niedergelassen hatten, laufe noch. Vielleicht würde dieser Ermittlungsansatz
ein Resultat bringen. Bei einer weiteren Flasche Birra Dolomiti erzählte Lupino
von seinen eigenen Recherchen. Von der Rekonstruktion des letzten Weges, den der
Junge gegangen war. Und auch davon, dass sich die Geschäftsinhaberin an den Buben
erinnert hatte. Allerdings, wie er gemeinsam mit seiner Großmutter einige Zeit vor
seinem Verschwinden in dem Maskenladen war. Ranieri gab zu, dass auch das ein interessanter
Ansatz sei, und bat Lupino, ihn, sobald er irgendetwas Neues entdeckte, sofort zu
verständigen. Und da es ein verdammt schwüler Abend war, tranken sie jeder eine
weitere Flasche Birra Dolomiti. Plötzlich verkrampfte sich Ranieri. Seine Augen
wurden schmal und der Mund verkniffen. Lupino folgte Ranieris Blick und sah die
TV-Reporterin Ornella Felducci, die den Begriff ›Venedig-Ripper‹ geprägt hatte,
gemeinsam mit einigen ihrer Kollegen zwei Tische weiter Platz nehmen. Ranieri fauchte:
»Diese doofe
Schlampe. Die macht mit ihrem ›Venedig-Ripper‹-Gesülze die ganze Stadt rebellisch.«
Schwankend
stand er auf und ging auf den Tisch der Journalisten zu. Lupino war wie versteinert.
Fassungslos sah er mit an, wie Ranieri Ornella Felducci anpöbelte, einem ihrer Kollegen,
der ihn abdrängen wollte, einen Schlag versetzte und schließlich in eine handfeste
Rauferei geriet, die von einem Fotografen mit unzähligen Blitzaufnahmen festgehalten
wurde. Die Kellner der Gelateria, die Ranieri offensichtlich kannten, taten ihr
Bestes, um die Lage zu beruhigen. Nach kurzer Zeit erschienen dann auch Ranieris
Kollegen. Lupino stand auf und ging grußlos. Mit dieser Geschichte wollte er nichts
zu tun haben.
Zwölf
Marco strengte sich in der Schule
an. Schließlich wollte er seinen Job bei Signor Veneto nicht aufs Spiel setzen.
Und auch die Hitze, die für September erstaunlich war,
Weitere Kostenlose Bücher