Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
seiner Mutter, die als Kellnerin gewohnt war, schwere Lasten zu heben,
zog ihn empor und schleuderte ihn weit hinein in die Wohnung. Marco krachte mit
dem Kopf voran an den Türstock der Küche, dass ihm ganz schwindlig wurde.
»Brutto
stupido! [7] «, schrie
sie und drosch mehrmals den langen, metallen Schuhlöffel, der gleich neben der Eingangstür
hing, auf seinen Rücken. Marco stöhnte auf vor Schmerz. Dann brüllte sie ihn an,
was er sich denn eigentlich einbilde. Stundenlang komme er nicht nach Hause, sein
Handy sei abgeschaltet gewesen. Sie habe die ganze Nachbarschaft nach ihm abgesucht
und rebellisch gemacht. Marco verteidigte sich heulend, dass er nach der Schule
vergessen hatte, das Handy einzuschalten. Außerdem habe er ganz in der Nähe, in
Signor Venetos Laden ausgeholfen. Als Beweis zeigte er ihr mit zitternder Hand den
hart verdienten Fünf-Euro-Schein. Voll Wut packte sie den Schein und zerriss ihn
in unzählige kleine Stücke. Dann beschuldigte sie Marco, dass er sie noch umbringen
werde. Sie halte das nicht mehr aus. Als alleinerziehende Mutter wachse ihr alles
über den Kopf. Plötzlich rannen ihr dicke Tränen über die Wangen, sie sank auf die
Knie, schlug die Hände vorm Gesicht zusammen und begann hysterisch zu schluchzen.
Marco tat es unendlich leid, dass er vergessen hatte, sie zu benachrichtigen. Er
hätte sie ja nur kurz von seinem Handy aus anrufen müssen. Auf allen vieren kroch
er zu dem schluchzenden Häufchen Elend, das nun so gar nichts mit der tobenden Rachegöttin
von vorhin gemeinsam hatte. Schüchtern legte er seinen Arm um sie, und als sie diese
Annäherung nicht abwehrte, umarmte er sie heftig. So kauerten die beiden eine Zeit
lang im Vorzimmer. Schließlich beruhigte sich seine Mutter wieder und stand auf.
Sie nahm seine Hand und führte ihn in die Küche. Dort lag ein ›Il Gazzettino‹ aufgeschlagen.
Wortlos schob sie ihm die Zeitung hin. Mit Entsetzen las er: ›Venezia:
disperso un altro ragazzo.‹ [8] Und plötzlich
wurde ihm klar, was für Ängste seine Mutter ausgestanden haben musste. Er überflog
den Artikel, und Gänsehaut kroch seinen Rücken empor. Der Artikel war richtig gruselig.
Denn hier stand geschrieben, dass offensichtlich ein Knabenmörder in Venedig umgehe.
Dass nach dem 11-jährigen Johannes M., dessen nackte Leiche man vor einer Woche
bei der Accademia-Brücke aus dem Canal Grande gefischt hatte, nun der 10-jährige
Andrea P. vermisst werde. Auch in diesem Fall sei das Schlimmste zu befürchten.
Marco sagte kein Wort. Er stand auf, stürmte auf seine Mutter zu, umarmte sie und
drückte sie so heftig wie er nur konnte. Sie, die gerade von einem Backblech ein
großes Stück Polenta für ihren Sohn heruntergeschnitten, mit Parmesan bestreut und
in die Mikrowelle zum Aufwärmen gegeben hatte, drehte sich um und erwiderte die
innige Umarmung. Liebevoll strich sie durch Marcos Haar und murmelte:
»Ti voglio
bene, bambino mio. [9] «
Als Marco gegessen hatte, eröffnete
ihm seine Mutter, dass sie um 20 Uhr noch einmal in das Ristorante müsse, da ihre
Kollegin erkrankt sei. Bevor sie wieder arbeiten ging, nahm sie ihm das Versprechen
ab, aufzupassen und vor allem nicht mit fremden Männern mitzugehen. Er solle überhaupt
schauen, dass er sich, wenn er allein sei, immer nur im Kreis von ihm bekannten
Menschen aufhalte. Das musste er ihr hoch und heilig versprechen. Im Übrigen war
sie sehr erfreut, dass Marco einen Nachmittagsjob bei Signor Veneto gefunden hatte.
Schließlich wuchs das Geld ja nicht auf den Bäumen! Und jeder Euro, den er sich
dazuverdienen konnte, war hilfreich. Sie gestattete ihm diese Arbeit unter einer
Bedingung: Dass er seine Hausaufgaben und die Schule nicht vernachlässige. Marco
versprach ihr auch das. Als sie nach einer langen Umarmung aus der Wohnung lief,
sperrte Marco hinter ihr beide Schlösser sorgsam zu. Dann putzte er sich die Zähne
und verzog sich in sein Bett, wo er noch ein bisschen mit dem Gameboy spielte. Als
er schließlich einschlief, träumte er, dass er von einem Monster gejagt wurde. Und
seine Mutter, die Einzige, die ihm Schutz bieten könnte, war weit, weit weg.
Neun
Das Schreien der Lachmöwen weckte
ihn. Ein kurzer Blick auf den Wecker, den er gestern Abend aus einer unteren Schublade
hervorgeholt hatte, zeigte, dass es erst 6.30 Uhr war. Unruhig wälzte er sich auf
dem schweißnassen Leintuch seines Bettes herum, um eine bequeme Position zu finden,
in der er die noch verbleibenden eineinhalb
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