Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
machte ihm nichts. Denn schließlich
bekam er nach dem Unterricht Mineralwasser, Cola und auch Eis, so viel er wollte.
Ja, Bruno Veneto hatte den Jungen wirklich gern. Er war aufgeweckt, unglaublich
gut im Kopfrechnen und äußerst hilfsbereit. Marco verkaufte nicht nur Eis, sondern
half dem Bäckermeister auch Pizza zu belegen, schnitt Pizzastücke ab und verkaufte
sie genauso flink wie das Eis und die gekühlten Getränken. Die Touristen mochten
diesen fröhlichen Bengel ebenso wie die Leute aus der Umgebung. Die alte, krummbeinige
Signora Umberti nannte ihn, wenn sie nachmittags um drei Uhr ein Eis bei ihm kaufte,
immer: »Luce di sole. [12] « Und sogar
Signor Smith, der ernste, schweigsame Vertreter von Signor Cecchetti, lächelte manchmal,
wenn Marco ihm eine Pizzaschnitte servierte. Zuerst war dieser stille, bleiche Mann,
der da auf einem Barhocker in der Ecke der winzigen Pizzeria saß, Marco unheimlich
gewesen. Doch dann beobachtete er, dass Signor Veneto recht froh war, nachmittags
einen Stammgast hier sitzen zu haben, mit dem er hin und wieder ein wenig plaudern
konnte. Nach und nach gewöhnte sich Marco an das merkwürdige Italienisch, das Signor
Smith sprach. Es war irgendwie altmodisch, hatte eine amerikanische Klangfärbung,
und manchmal fielen dem Fremden gewisse Ausdrücke nicht ein. Marco machte es sich
zur Gewohnheit, ihm dabei auf die Sprünge zu helfen. Er krähte einfach das Wort,
nach dem der Fremde suchte, lauthals hinaus. Wenn er mit seiner verbalen Hilfestellung
richtig lag, erntete er jedes Mal ein dünnes Lächeln. Schließlich begann der Fremde,
bevor er um 16 Uhr in seine Werkstatt zurückkehrte, ihm regelmäßig einen Euro Trinkgeld
– er nannte es Tip – zu geben. Das beflügelte Marco, den Fremden noch aufmerksamer
zu bedienen. Wenn dieser gegen 14 Uhr im Pizzaladen aufkreuzte, stellte er ihm,
ohne eine spezifische Bestellung abzuwarten, eine große Cola mit extra vielen Eiswürfeln
hin. Dann fragte er ihn, welche Pizza er heute wolle, und Signor Smith entschied
sich meist für ein Stück Cardinale. Später folgte in der Regel eine Diavolo. Den
Schlusspunkt bildete immer eine Quattro Formaggi. Manchmal, wenn der Fremde gut
aufgelegt war, ließ er sich von Marco auch noch einen Becher Eis servieren. Doch
das geschah nicht sehr oft. Marco merkte, dass Signor Smith oft völlig in Gedanken
versunken war und ins Leere starrte. Manchmal hatte er dabei einen so harten Blick,
dass es Marco schauderte. Richtig ins Herz schloss er Signor Smith allerdings erst,
als ihm dieser ein heißes, voll belegtes Pizzablech auffangen half. Marco hatte
es aus dem elektrischen Pizzaofen genommen und dabei seine Körperkräfte überschätzt.
Seine dünnen Arme zitterten unter dem Gewicht des Blechs, seine Füße klebten wie
angewachsen am Boden. Signor Veneto konnte nicht helfen, da er gerade hinten in
der Backstube Teig knetete. Marcos Augen wurden vor Panik immer größer, als sich
das Blech ganz langsam nach links, dort wo er weniger Kraft in der Hand hatte, neigte,
und die Riesenpizza in Richtung Boden zu rutschen begann. Vor Entsetzen brachte
Marco keinen Laut heraus. Plötzlich kamen ihm die kräftigen Hände des Fremden zu
Hilfe. Er packte das heiße Blech, ohne eine Miene zu verziehen, an und stellte es
auf die Verkaufstheke. Marco atmete erleichtert durch, streifte die Schutzhandschuhe
ab und murmelte:
»Mille grazie. [13] «
Signor Smith
lächelte sein dünnes Lächeln und hielt die verbrannten Hände unter einen kalten
Wasserstrahl hinter dem Tresen. Nach zwei Minuten kehrte er, so als ob nichts geschehen
wäre, an seinen Stammplatz zurück. Dort nahm er einen großen Schluck Cola und starrte
danach ins Leere. Marco näherte sich ihm vorsichtig und fragte mit ängstlicher Stimme,
ob er sich sehr wehgetan hätte. Die bernsteinfarbenen Augen des Fremden fixierten
ihn. Dann erklärte ihm Signor Smith mit leiser Stimme, dass man Schmerz ertragen
lernen müsse. Das ganze Leben sei Schmerz. Nichts als Schmerz. Das müsse ein Mann
durchstehen. Diese Antwort imponierte Marco. Und er fühlte sich ab diesem Zeitpunkt
in der Gegenwart des Fremden sicher. Ein Gefühl, das in Zeiten wie diesen für einen
Knaben seines Alters nicht selbstverständlich war. Schließlich trieb der ›Venedig-Ripper‹
sein Unwesen. Ein Faktum, das ihm seine Mutter täglich aufs Neue einschärfte. Sie
übertrieb ihre Warnungen so sehr, dass der Mörder Marco sogar bis in die Träume
verfolgte. Doch der konnte ihm jetzt nichts
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