Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
Freund, so etwas von ihm verlangte. Eigentlich wollte Marco nicht mehr
zu weiteren Sitzungen gehen, doch er traute sich nicht, das Signor Smith mitzuteilen.
Mit Schaudern erinnerte er sich an dessen schraubstockartigen Händedruck, mit dem
er das Geschäft besiegelt hatte. Damals war Marco plötzlich bewusst geworden, dass
er sich da auf etwas eingelassen hatte, von dem er bisher überhaupt nicht wusste,
dass es existierte: Eiskalte, psychische Gewalt verbunden mit brutaler physischer
Kraft. Marco schauderte.
»Che
cos’ hai, Marco? [29] «, hörte
er Bruno Venetos Stimme besorgt fragen. Marco schüttelte nur den Kopf und knetete
weiter den Teig. Das, was ihm bis vor Kurzem noch so viel Spaß gemacht hatte, langweilte
ihn nun. Das Kneten und Ziehen des Teiges. Das in die Luft Werfen und auf das Holzbrett
Knallen. Das Formen von Teiglaiben, aus denen schlussendlich große Pizzafladen gemacht
wurden. In seiner Verwirrung kam er sich selbst wie ein Stück Teig vor, den die
schraubstockartigen Händen von Signor Smith nach Lust und Laune verformten und kneteten.
Und dann verdunkelte sich der Nachmittag endgültig. Mit einem dünnen Grinsen betrat
Signor Smith die kleine Pizzeria. Wie immer nahm er hinten in der Ecke Platz. Heute
startete er ausnahmsweise mit einer Pizza Funghi. Marco servierte ihm das große
Glas Cola mit viel Eis ohne aufzublicken. Das war auch nicht nötig, denn er fühlte
Smith’ Raubvogelaugen auf sich ruhen. Er kehrte zum Teig zurück und knetete verzweifelt
weiter. Schweiß rann ihm herunter, und er wäre am liebsten davon gerannt. Doch er
wusste, er würde nicht weit kommen. Die Schraubstockhände würden ihn über kurz oder
lang packen und ihn in die Rahmenmacherwerkstatt schleppen. Mit Grauen erinnerte
er sich an die ersten beiden Sitzungen. So nannte Signor Smith die Prozeduren, für
die er ihn bezahlte. Bei der ersten Sitzung waren sein Kopf und sein Gesicht mit
feuchten Gipsbinden eingepackt worden. Zeitweise glaubte Marco zu ersticken. Dabei
musste er eine bestimmte Haltung einnehmen. Genau so wie eines der vier Pferde,
die oben auf der Loggia des Markusplatzes standen. Wenn er sich auch nur ein bisschen
bewegte, wurde er von Signor Smith gerügt. In einem dermaßen harten Befehlston,
dass er sich danach nicht einmal mehr traute, mit den Wimpern zu zucken. Die zweite
Sitzung war noch schlimmer. Diesmal musste sich Marco den Oberkörper frei machen
und so vor Signor Smith knien. Dabei war besonders wichtig gewesen, dass er die
eine Hand leicht anwinkelte und so verharrte. Eine Tortur, die er sein Leben lang
nicht vergessen würde. Als die Gipsbinden endlich trocken waren und Signor Smith
sie in der Mitte aufschnitt und vorsichtig abnahm, bemerkte er lakonisch, dass bei
der nächsten Sitzung dann das Hinterteil drankäme und dass man dann fertig sei.
Marco wurde vom Läuten des Telefons aus seinen Gedanken gerissen. Signor Veneto
hob ab und begrüßte mit Freude in der Stimme den dicken Amerikaner. Der bestellte
fünf verschiedene Pizze und bat, dass Marco sie liefern sollte. Außerdem solle sich
Marco eine sechste Pizza aussuchen, er sei eingeladen. Als Marco das hörte, strahlte
er. Nichts wie weg von hier! Er konnte es kaum erwarten, dass die Pizze endlich
aus dem Ofen herauskamen, um sie in die Kartons zu verpacken. Signor Veneto lächelte,
als er sah, wie sich Marco freute. Er hatte den Buben wirklich ins Herz geschlossen
und hatte sich schon Sorgen gemacht, warum er in den letzten Tagen so eigenartig
verschlossen und still gewesen war. Nun verhielt sich der Junge endlich wieder normal.
Bruno Veneto freute sich und sagte Marco, dass er nach dem Pizza-Essen bei Donald
B. Crumb nicht mehr in die Pizzeria zurückkehren brauche. Er käme hier den Rest
des Tages auch allein zurecht. Marco nahm die sechs Pizzakartons, grüßte und zischte
ab. Der dicke, fröhliche Amerikaner hatte ihn erlöst. Wie ein Vater, der seinen
in Bedrängnis geratenen Sohn rettet. Marco war Donald B. Crumb unendlich dankbar.
Und irgendwo ganz hinten in seinem Herzen verspürte Marco, der ja ohne Vater aufgewachsen
war, die Sehnsucht nach genau so einem wunderbaren Vater.
Zweiunddreißig
Die Hitze des Tages hatte sich nicht
in das enge Gässchen verirrt, in dem sich die Osteria da Marcello befand. Das geschah
nur in den brütend heißen Sommermonaten. Jetzt, an den späten Nachmittagen im September,
war es hier wieder erträglich. Lupino nahm am einzigen besetzten Tisch Platz, an
dem Luciana und Gino vor einem
Weitere Kostenlose Bücher