Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
dachte sich: Wahrscheinlich
war der alte Bock wieder einmal bei seiner Freundin. Und dann wurde der Dottore
plötzlich hektisch. Er befahl der Orsetto, sofort den Untersuchungsrichter anzurufen,
und verschwand in seinem Büro. Von drinnen rief er zur Orsetto heraus, ob sie wisse,
wo seine Gummistiefel seien. Orsetto und Viti sahen einander überrascht an. Offensichtlich
hatte der Vicequestore vor, sich höchstpersönlich zu Cecchettis Haus zu begeben.
Silvana Viti beschloss, zurück in ihr Büro zu gehen. Sie hatte die Tür zum Vorzimmer
des Chefbüros schon fast hinter sich geschlossen, als sie Mastrantonio brüllen hörte:
»Viti!!!«
Vierundfünfzig
Lupino traute seinen Augen nicht.
Ranieri hatte heute tatsächlich seine Dienstwaffe mit. Und er hatte sie gezogen,
als sie in das unheimliche Geschäft mit den unzähligen alten Rahmen, dem Gerümpel,
dem Holz und der merkwürdigen Kiste, die direkt hinter dem Eingang stand, gingen.
Lupino machte Ranieri darauf aufmerksam, dass sich in dem Raum bereits Wasser befunden
hatte, als sie die Tür öffneten. Das bedeutete, dass heute morgen jemand hier heraus-
beziehungsweise hineingegangen sein musste. Ranieri sah eine Abdichtplatte, wie
sie viele Geschäfte in Venedig hatten, neben der Tür stehen. Er bat Lupino diese
anzubringen, damit nicht noch mehr Wasser eindringe. Philipp Mühleis half Lupino,
die Platte in die vor der Tür befindlichen Schienen zu schieben. Ranieri hatte sich
mittlerweile in dem ziemlich großen und verwinkelten Raum umgesehen und schien jetzt
erst so richtig von Mühleis Notiz zu nehmen.
»Was tut
denn der hier?«, brummte er mit einer Kopfbewegung in die Richtung Philipp Mühleis’.
Lupino fühlte sich ertappt, ließ sich aber nicht ins Bockshorn jagen:
»Der? Der
hatte, wenn du dich erinnerst, Ludwig, die Königsidee mit den Vergoldern, Rahmenmachern
und Bildhauern.«
»Das ist
eine Amtshandlung. Eigentlich dürftest nicht einmal du hier dabei sein … Aber scheiß
drauf!«
Damit öffnete
er vorsichtig die Tür, die zu der hinter dem großen Geschäftsraum liegenden Vergolderwerkstatt
führte. Er fluchte, als das Wasser auch in diese Räume sickerte. Ranieri drehte
das Licht auf und sah den Arbeitstisch. Neugierig inspizierte er, noch immer die
gezückte Waffe in der Hand, das Vergolderwerkzeug und die in einer Ecke stehenden
Gipssäcke. Ranieri deutete den anderen beiden zurückzubleiben, als er die Tür zu
einer lang gezogenen Diele öffnete. Er knipste das Licht an, und es waren Treppen,
die nach oben gingen, eine verschlossene Tür ganz am Ende der Diele sowie eine weitere
Tür zu sehen. Ranieri schnupperte. Ein merkwürdig fauliger Geruch lag in der Luft.
Als Lupino an seine Seite trat und ebenfalls schnupperte, wurde er blass.
»Scheiße,
Ludwig. Da stinkt es nach Verwesung.«
Ranieri
nickte und betrachtete das Wasser, das nun von den Werkstatträumlichkeiten in die
Diele sickerte. Es war nicht viel, doch Ranieri wollte der Spurensicherung nicht
alles versauen. Deshalb bat er Lupino und Mühleis, die Holzwolle, die Kartons und
auch die alten Zeitungen, die vor allem im ersten Raum, im Verkaufsraum, herumlagen,
auf dem Boden aufzulegen, sodass das Wasser aufgesogen werden würde. Lupino und
Mühleis nickten und machten sich an die Arbeit. Ranieri ging inzwischen dem Verwesungsgeruch
nach. Eine Aufgabe, um die ihn Lupino nicht beneidete. Das war etwas, was er an
seinem früheren Job gehasst hatte: Leichen zu entdecken beziehungsweise von anderen
entdeckte Leichen anzusehen und sie zu identifizieren. Gemeinsam mit Mühleis kam
er mit dem Auflegen der saugenden Materialien gut voran, ein Großteil des Verkaufsraumbodens
war nun mit Papier, Pappe und Holzwolle bedeckte. Es sickerte kein Wasser mehr in
die weiteren Teile des Hauses.
»Aaaaaaaiiiiiiiii!«
Dieser tierisch
anmutende Schrei ließ Lupino durch die Werkstatt in die Diele eilen. Er sah Ranieri
ihm entgegenwanken. Grün im Gesicht. Der Commissario drückte ihm seine Waffe ihn
die Hand und stammelte:
»Halt die
Stellung, Mensch.«
Dann stürzte
er hinaus in den Verkaufsraum und danach ins Freie, wo er sich an eine Hausmauer
lehnend übergab. Plötzlich ertönte wieder dieser Schrei, der Lupino das Blut in
den Adern gefrieren ließ. Er kam von dem Raum, der am hinteren Ende der langen Diele
lag. Ranieri hatte die Tür halboffen gelassen, und eine Wolke von bestialischem
Verwesungsgeruch strömte Lupino entgegen. Lupino nahm all seinen Mut zusammen, entsicherte
die
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