Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
ganz laut »Aiuto!«
zu rufen. Mehrfach musste er innehalten. Keuchend merkte er, dass es um seine Kräfte
nicht zum Besten bestellt war. Im Gegenteil. Selten in seinem Leben hatte sich Marco
so schwach und hilflos wie in diesem Augenblick gefühlt. Trotzdem gab er nicht auf.
Denn wenn er den Schrei von oben hören konnte, musste doch irgendjemand auch seine
Schreie von hier unten hören.
»Aiuto!
Aiutatemi! [49] «
Und dann
begannen Marco Tränen der Verzweiflung herunterzurinnen. Eine würgende Hilflosigkeit
packte ihn. Niemand würde ihn hören. Nie würde er jemals seine Mama wieder sehen.
Ihre Wärme spüren, sich an sie schmiegen können. Nie würde sie mehr mit ihm schimpfen
und ihm einen Teller oder einen Schuh nachwerfen. Nie würde er sich mehr bei ihr
entschuldigen können. Nie mehr würde sie ihn in der Früh drängen, nicht zu träumen,
sondern weiterzumachen. Nie mehr würde er ihr eine schlechte Schulnote beichten
und nie mehr würde er sich in der Schule auf den Unterricht konzentrieren müssen.
Nie mehr würde er Freunde, Nachbarn und Menschen seines Viertels sehen. Ob ihn Signor
Veneto vermissen würde? Oder die alte Signora Umberti, die ihm immer Trinkgeld gab,
wenn er ihr ein Eis oder ein Pizzastück verkauft hatte? Und auch mit seinem neuen
Freund, Bobby Crumb, würde er nie mehr Fußball spielen können. Dabei wollte er ihn
so gern zu seiner Geburtstagsfeier einladen. Seine Mama hatte ihm nämlich versprochen,
dass sie Bobby und Marcos Schulfreunde zu einem großen Fest anlässlich seines Geburtstages
einladen würde. Nie mehr würde er Bobbys netten Vater Donald Crumb sehen. Nie mehr
würde er einen Stapel mit duftenden Pizzas in dessen Palazzo liefern können. Und
nie mehr würde er davon träumen können, einen Vater wie Donald B. Crumb zu haben.
Nie mehr, nie mehr …
Sechsundfünfzig
Als Lupino aus seiner schockartigen
Erstarrung erwachte, hörte er in der Werkstatt heftiges Rumoren. Er lief dorthin
zurück und sah Philipp Mühleis wie verrückt in einem Werkzeugkasten kramen.
»Mühleis!
Hören Sie auf! Das muss sich alles die Spurensicherung vornehmen!«
»Scheiß
auf die Spurensicherung! Ich suche eine Beißzange. Wir müssen die Frau befreien.«
Inzwischen
war Ranieri wieder bei ihnen. Er steckte sein Handy, mit dem er gerade noch heftig
telefoniert hatte, ein und hockte sich zu Mühleis auf den Boden, um gemeinsam mit
ihm eine geeignete Zange zu suchen.
»Er hat
recht, Wolfgang. Wir müssen die Frau befreien.«
Mühleis
stieß einen Schrei des Triumpfes aus. Hinter der mehrlagigen und total unordentlichen
Werkzeugkiste hatte er auf einem kleinen Hocker die gesuchte Zange erblickt. Er
schnappte sie und lief damit in den hinteren Raum zu der Frau. Als sie ihn auf sich
zukommen sah, stieß sie wieder einen ihrer markerschütternden Schreie aus. Lupino
und Ranieri hasteten hinter ihm her. Lupino gab Ranieri die Waffe zurück. Dieser
schaute ihn verdutzt an und ließ dann die Waffe in seinem Schulterhalfter verschwinden.
Inzwischen kniete Philipp Mühleis vor der Frau und schnitt behutsam den Draht auf.
Dabei musste er natürlich die stark geschwollenen und entzündeten Hautstellen berühren,
was mehrere neuerliche, durch Mark und Bein gehende Schreie zur Folge hatte. Doch
dann konnte die Frau ihre Hände wieder bewegen. Sie hob sie vor ihr Gesicht und
sah diese verwundert an. Als Philipp Mühleis die Fußfesseln durchschnitt, reagierte
sie überhaupt nicht. Denn die Möglichkeit, endlich wieder die eigenen Hände betrachten
zu können, benötigte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Vorsichtig griffen Mühleis und
Lupino der Frau unter die Oberarme und hoben sie ganz langsam und behutsam aus dem
Kasten. Die beiden Männer mussten die alte Frau stützen, denn ihre seit über 36
Stunden angewinkelten Beine trugen sie nicht. Vorsichtig führten sie sie in die
Werkstatt, wo sich ein Sessel befand. Darauf wurde Signora Umberti oder das, was
von der alten Dame nach eineinhalb Tagen Einzelhaft im Barockschrank übrig geblieben
war, auf den Stuhl gesetzt. In diesem Augenblick erklang vorn im Geschäftsraum Lärm.
Ranieri zuckte zusammen, denn er erkannte die Stimme seines Vorgesetzten. Die Tür
wurde aufgerissen, und der Vicequestore gefolgt von Silvana Viti und einem uniformierten
Polizisten stand vor Signora Umberti. Das erschreckte diese so, dass sie einen ihrer
Schreie losließ. Danach war der Vicequestore leichenblass. Leise fragte er Ranieri,
was hier vorging. Der nahm wortlos den
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