Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
Durch die Schreie der Frau war die gesamte Nachbarschaft zusammengelaufen.
Gut und gern 30 Menschen drängten sich in Cecchettis Verkaufsraum sowie in den dahinter
liegenden Räumen der Werkstatt. Es wurde heftig diskutiert, und als die Sanitäter
den in Decken gehüllten Marco hinaus zum Ambulanza-Boot tragen wollten, stürzte
sich Bruno Veneto auf ihn. Er umarmte den Sanitäter und den Buben, heulte Rotz und
Wasser und küsste beide wie besessen ab. Dabei schrie er in einem fort:
»Miracolo!
Miracolo! [50] «
Mehrere
der umstehenden älteren Frauen bekreuzigten sich und kreischten Danksagungen und
Lobpreisungen Gottes. Mastrantonio, der dieses Spektakel kurze Zeit fassungslos
mitangesehen hatte, bekam schließlich einen roten Kopf und brüllte, dass die Wände
zitterten. Die versammelten Menschen duckten sich ob dieser Stimmgewalt. Rasch verließen
sie das Rahmenmachergeschäft. Nachdem auch die Sanitäter mit Marco und dem ebenfalls
ziemlich unterkühlten Philipp Mühleis abgezogen waren, befahl der Vicequestore dem
uniformierten Polizisten, die Tür als Tatort zu markieren und niemanden mehr hereinzulassen.
Als endlich Ruhe eingekehrt war, atmeten die Verbliebenen erleichtert auf. Gemeinsam
durchsuchten sie das gesamte Haus. Zu Lupinos Überraschung behandelte der Vicequestore
ihn wie einen Kollegen. Vor allem auch deshalb, weil er ihm Mühleis’ Kurzbericht
übersetzt hatte, als dieser vor Kälte zitternd schilderte, wie er plötzlich Klopfzeichen
und leise Rufe von unterhalb gehört und die Falltür in dem Lagerraum entdeckt hatte.
Außerdem gelang Lupino in der Küche ein bemerkenswerter Fund: Er entdeckte ein Fleischermesser,
das offen in der Küche herumlag. Lupino, der wie alle anderen Beteiligten mittlerweile
Gummihandschuhe trug, nahm es mit den Fingerspitzen und packte es in eine Plastiktüte.
Auch das brachte ihm Punkte bei Mastrantonio. Ranieri, der Lupinos Bemühungen beobachtete,
konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Lupino war dieses Fleischermesser insofern
aufgefallen, weil es in der Küche sonst keinerlei andere Anzeichen von Kochtätigkeit
gab. Außer einer stark benutzten und entsprechend verschmutzten Bialetti-Kaffeemaschine
und einer ebenfalls dreckigen Teekanne, einigen ungewaschenen Kaffee- beziehungsweise
Teeschalen und einigen gebrauchten Schnapsgläsern gab es keinen Hinweis darauf,
dass hier jemand eine Mahlzeit zubereitet hatte. Lupino und Ranieri hofften, dass
dieses Messer als Tatwaffe identifiziert werden könnte. Obwohl nirgendwo im Haus
Blutspuren zu finden waren. Allerdings stand das gesamte untere Geschoss derzeit
unter Wasser. Vielleicht würde man da unten Hinweise finden. Als sie das Haus durchsucht
hatten, standen sie im Verkaufsraum des Geschäftes zusammen und diskutierten die
weitere Vorgehensweise. Plötzlich stöhnte Ranieri auf:
»Dov’
è la cassa di legno? [51] «
Der Vicequestore
wurde weiß im Gesicht. In dem ganzen Irrsinn war die Teakholzkiste, die auf zwei
Sesseln gestanden hatte, verschwunden. Die Sessel lagen umgeworfen im Matsch aus
Zeitungspapier, Holzwolle und Karton, der den Boden des Verkaufsraumes bedeckte.
Achtundfünfzig
Es war trüb und nebelig. Dichte
Schwaden zogen durch die Lagune und hüllten die trostlose Silhouette der Kräne,
Schornsteine, Lagerhallen, Raffinerie- und Hafenanlagen von Marghera in weiche,
fließende Formen. Mit fahrigen Bewegungen sperrte er das Spezialschloss auf. In
der Lagerhalle gingen die Neonröhren an. Sie flackerten und beleuchteten mit ihrem
kalten Licht einen gewaltigen schwarzen Kubus, der mitten in der sonst leeren Halle
stand. Zielstrebig ging er auf die Eingangstür des Kubus zu und tippte eine Zahlenkombination
in das Nummernschloss. Die Eingangstür öffnete sich. Ein Bewegungsmelder ließ gedämpftes
Licht im Inneren aufflackern. Der Kubus war mit einer bequemen, schwarzen Ledersitzgruppe
samt schwarzem Couchtisch, einem matt schwarz schimmernden Kühlschrank und einem
schwarz lackierten Art Deco-Möbel, das als Bar diente, eingerichtet. Etwas abseits
an der Wand, gleich neben der Eingangstür, standen drei dunkel glänzende Teakholzkisten.
Der Mann strich mit der Hand zärtlich über die vorderste Kiste und ging zur Ledersitzbank,
auf die er sich mit einem Seufzer fallen ließ. Regungslos saß er eine Zeit lang
da und starrte auf den schwarzen Vorhang, der einen Teil des Innenraums abdeckte.
Neuerlich sah er vor seinem geistigen Auge die Bilder, die ihn seit Jahrzehnten
quälten. Damals, als
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