Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
und Ketzerverbrennungen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit
in seiner Fantasie auf. Doch sein Geist kehrte sofort wieder in die geliebte Antike
zurück. Mit geschlossenen Augen rezitierte er laut eine Stelle aus Homers Ilias,
in der von den Hekatomben an Schlachttieren erzählt wurde, deren fette Dämpfe zu
den Göttern emporstiegen. Ein wohliger Schauer überrieselte ihn, und der ›Danse
de la terre‹ ließ sein Gehirn einen Schwall von Glückshormonen ausstoßen. Er atmete
tief durch und wollte gerade einen archaischen Glücksschrei von sich geben, als
es läutete. Jäh wurde er aus seiner Ekstase gerissen. Mit eiligen Schritten ging
er zur Eingangstür des Kubus, neben der eine Türöffnungsanlage samt Videobildschirm
hing. Mit einem Knopfdruck aktivierte er den Bildschirm und lächelte. Vor der Lagerhalle
standen zwei Speditionsarbeiter, die die vierte und letzte Teakholzkiste bei sich
hatten. Der Vollendung seines Werks stand nichts mehr im Wege.
Neunundfünfzig
Während der Vicequestore Ornella
Felducci vor dem Haus Cecchettis ein TV-Interview gab, bei dem er alles und nichts
sagte, verließen Lupino, Ranieri und Viti den Tatort. Lupino dachte sich: Jetzt
suchen wir eine alte Schachtel und eine neue Kiste. Als Erstes schauten sie nebenan
zu Bruno Venetos kleiner Pizzeria, doch der Rollbalken war heruntergezogen. Geschlossen.
Darauf führte ihr Weg zum Wohnhaus von Signora Umberti. Lupino läutete stürmisch
bei der kettenrauchenden Signora im Stockwerk unterhalb. Doch niemand antwortete.
Als er dann bei Umberti läutete, meldete sich zu seiner Überraschung die verrauchte
Stimme. Die Kettenraucherin öffnete ihnen das Haustor, und die drei stiegen hinauf
zu Umbertis Wohnung. Dort erwartete sie eine positive Überraschung: die Signora,
mit einer Zigarette im Mundwinkel, und zwei Nachbarinnen hatten sich der alten Dame
angenommen. Diese saß mittlerweile gebadet und frisiert in einem frischen Nachthemd
im Bett und aß gierig ein großes Stück Kuchen. Dazu trank sie, so gut es mit ihren
aufgeschlagenen Lippen ging, einen Caffè latte. Sie schlürfte und schmatzte wie
ein kleines Kind, der irre Glanz in ihren Augen war jetzt milder, aber noch immer
nicht ganz verschwunden. Die Kettenraucherin informierte Lupino, dass Signora Umberti
noch nicht wirklich ansprechbar sei. Silvana Viti erkundigte sich höflich, ob die
Signora vielleicht psychologische Hilfe benötigte. Die Nachbarinnen zuckten mit
den Schultern, ließen sich dann aber ein Kärtchen mit der Nummer des Polizeipsychologen
geben. Nun fragte Ranieri die Damen, die sich alle in Cecchettis Laden aufgehalten
hatten, ob ihnen eine neue Kiste aus dunklem Holz und mit glänzenden Metallbeschlägen
aufgefallen sei. Alle drei nickten und meinten, dass die, als sie die Werkstatt
betreten hatten, auf zwei Sesseln gestanden hatte. Auf Ranieris Frage, ob ihnen
noch etwas rund um die Kiste aufgefallen sei, sahen sie ihn verständnislos an und
schüttelten die Köpfe. Die beiden Polizisten und Lupino verabschiedeten sich und
gingen enttäuscht die Stiegen hinunter. Als sie zwei Schritte von der Haustür entfernt
waren, machte Lupino auf den Fersen kehrt. Er läutete noch einmal bei Umberti, und
als sich wiederum die kettenrauchende Signora meldete, fragte er sie, ob sie den
kleinen Jungen, Marco Canella, kenne. Sie bejahte, und Lupino bat sie um dessen
Wohnadresse. Auch die konnte die Signora ihm geben. Er bedankte sich und sagte zu
den beiden anderen:
»Andiamo!«
Als sie
wenig später bei Marcos Mutter anläuteten, meldete sich ebenfalls niemand. Lupino
läutete nacheinander an allen Türglocken. Als er schulterzuckend aufgeben wollte,
wurde ein Fenster im ersten Stock aufgemacht, und eine zitternde Altfrauenstimme
krächzte:
»Pronto!«
Ranieri
zückte seinen Dienstausweis und rief hinauf, dass sie Marco Canellas Mutter suchten,
weil Marco etwas zugestoßen sei. Die alte Dame erwiderte, dass Signora Canella arbeiten
sei. Sie sei eine sehr fleißige Frau, die sich und ihren Sohn ganz allein durchbringe.
Dass ausgerechnet so einem Menschen so ein Unglück geschieht … Ranieri rief hinauf,
dass es kein Unglück gebe, denn Marco sei lebend gefunden worden. Die alte Dame
klatschte vor Überraschung in die Hände, bekreuzigte sich und dankte Gott dem Herrn.
Ranieri fragte sie, wo er denn Signora Canella erreichen könne. Darauf nannte die
alte Dame ein sehr bekanntes Restaurant. Dort sei Signora Canella im Service tätig.
Ranieri, Lupino und
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