Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
er blass, dünn und schüchtern einem Kollegium von Professoren
seine Kunstmappe mit zitternden Fingern präsentierte. Alles, was er damals künstlerisch
auszudrücken vermocht hatte, war in dieser Mappe gewesen. Sein Herzblut. Und sie,
die mit gelangweilten Gesichtern darin blätterten, hatten ihn ohne es ausreichend
zu erklären, fortgeschickt. Zwei Jahre später, dasselbe demütigende Procedere. Er
hatte mittlerweile in einer Künstler-WG gewohnt und sich voll auf Konzeptkunst konzentriert.
Mit zynischem Lächeln hatten sie seine Ideen zerpflückt und ihm die Aufnahme verweigert.
Der Traum vom Studium an einer renommierten Kunstuniversität war endgültig geplatzt.
Gedankenverloren griff er zu einer Fernbedienung und drückte eine Taste. Aus dem
Dolby Surround System erklang Igor Stravinskys ›Le sacre du printemps‹. Mit einem
zufriedenen Lächeln lauschte er den geheimnisvoll zaghaften Klängen, mit denen die
›Introduction‹ des Opfertanzes begann. Er schloss die Augen und sah Reihen von nackten
Knaben, die festlich geschmückt, begleitet von dieser geheimnis- und weihevollen
Musik zum Opferaltar geführt wurden. So wie er einst als Knabe im Internat selbst
Opfer gewesen war. Opfer der älteren Mitschüler, die ihn nächtens im Schlafsaal
immer wieder überfallen und vergewaltigt hatten. Später, als er dann zu den Älteren
zählte, wechselte er die Seiten und wurde vom Opfer zum Täter. Nackte, schmale Knabenkörper.
Eine mächtige Erektion überkam ihn. Als der stampfende Rhythmus der ›Danses des
adolescentes‹ erklang, schüttelte er sich kurz und verscheuchte die sexuellen Visionen.
Er sah auf seine goldene Rolex, stand auf und mixte sich an der Bar eine Virgin
Bloody Mary. Für Alkohol war es noch zu zeitig. Mit einem Seufzer ließ er sich wieder
auf die Ledergarnitur fallen. Er nippte an dem Drink und lächelte. Nun hatte er
es fast geschafft. Endlich nahm sein künstlerisches Meisterwerk Gestalt an. Eine
private Kunstkammer, so wie sie früher nur große Herrscher besaßen: wie Lorenzo
de Medici oder Kaiser Rudolf II.. Jahrelang hatte er weltweit Museen besucht und
sich Tausende Kunstwerke angesehen. Schlussendlich fiel seine Wahl auf Picasso und
Chagall. Die Werke dieser beiden Giganten würden seinem eigenen Hauptwerk einen
würdigen Rahmen verleihen. Die Picassos und Chagalls befanden sich bereits in einem
Sicherheitscontainer auf dem Seeweg nach Venedig. Die Entscheidung war für diese
Transportvariante gefallen, da dabei Kon-trollen, die den Inhalt des Containers
betrafen, mittels üppiger Schmiergelder in den Häfen problemlos umgangen werden
konnten. Wieder nippte er an seinem Drink und erinnerte sich an seine ersten Kontakte
zur Unterwelt. Sehr vorsichtig und diskret war es ihm gelungen, einen Experten für
Kunstdiebstähle zu finden. Auf diesem Weg war er auf den ›Sculptor‹ gestoßen, der
ihm nach und nach die gewünschten Picassos und Chagalls besorgt hatte. Der letzte
Schluck der Virgin Bloody Mary rann seine Kehle hinunter, und er widerstand der
Versuchung, sich nun eine echte Bloody Mary mit einem ordentlichen Schuss Wodka
zu mixen. Später … Wenn das Werk vollendet sein würde. Sein Meisterwerk, das durchaus
einer Komposition des großen Stravinsky ebenbürtig war. Dann würde der Zeitpunkt
gekommen sein, die Flasche Roederer Cristal Brut, einen wunderbaren Jahrgangschampagner,
zu öffnen, die sich bereits in dem schwarzen Kühlschrank befand. Ein leidender,
bitterer Ausdruck huschte über sein Gesicht. Er würde diese Stunde des kreativen
Triumphes völlig allein feiern müssen. Mit niemandem – mit niemandem auf diesem
ganzen weiten Erdball konnte er die Begeisterung für seine Kunstkammer und sein
Meisterwerk teilen. Niemand würde ihm dafür Anerkennung zollen. Die Menschheit war
einfach noch nicht so weit. Diese Herdentiere, diese homogene auf die Befriedigung
ihrer primitivsten Bedürfnisse fixierten Lemminge. Wertloses Menschenmaterial, das
man scharenweise den Wenigen, den Auserwählten, den Genies opfern sollte. So wie
zu Anbeginn der Menschheit, als im Namen Gottes Menschen und Tiere geopfert wurden.
Ein wohliger Schauer rieselte über seinen Rücken, als er an die Gladiatorenspiele
des römischen Imperiums dachte. »Panem et circenses … [52] «, murmelte er, und vor seinem geistigen
Auge schlachteten sich Gladiatoren gegenseitig ab, Christen wurden von wilden Tieren
zerrissen, und auch der Kampf Mensch gegen Tier wurde blutig zelebriert. Kurz flackerten
die Hexen-
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